Hipp-Logistikchef lässt Krise Revue passieren

Peter Gebhard erzählt beim Deutschen Logistik-Kongress, wie er und sein Team die schlimmsten Coronamonate erlebt haben, warum er sich an Boxlegende Mike Tyson erinnert fühlte und welche Erkenntnisse er aus der Zeit gezogen hat.

Ein Highlight am Donnerstag beim Logistik-Kongress war der Vortrag von Peter Gebhard. Klicken Sie sich durch die Bilder und erfahren Sie mehr. (Screenshot: DVZ)

Peter Gebhard ist nicht nur Bereichsleiter Logistik beim Babynahrungshersteller Hipp. Als Sprecher des Arbeitskreises „Konsumgüterlogistik“ bei der Bundesvereinigung Logistik (BVL) ist er auch mit den anderen Akteuren bestens vernetzt. Dort tauschen sich mehr als 30 Logistikverantwortliche der größten Konsumgüterhersteller Deutschlands aus. Wenn Gebhard also von der Coronazeit erzählt, wie am Donnerstag beim Deutschen Logistik-Kongress, dann spricht er durchaus für eine ganze Branche. Alle hätten zuletzt vor ähnlichen Herausforderungen wie Hipp gestanden, betont er selbst.

Für das Familienunternehmen wurde es bereits im Februar ernst, als sich das Coronavirus in Italien plötzlich stark ausbreitete. Denn der Hersteller hat ein Lager mit 8.000 Palettenplätzen in der Nähe von Mailand. „Wir hatten richtig Panik, dass sie uns das Lager schließen und wir dann in Italien nicht mehr lieferfähig sind“, erzählt Gebhard. Später kam es dann zu den Hamsterkäufen im Lebensmittelhandel. „Niemand wusste, wie er reagieren sollte, alle waren ratlos.“ Der Manager fühlte sich an Boxlegende Mike Tyson erinnert, der einmal gesagt haben soll: „Jeder hat einen Plan, bis er eins auf die Fresse bekommt“ – „und genau das haben wir alle erlebt“, sagt Gebhard.

Zunächst bildete Hipp, wie wahrscheinlich alle Unternehmen, einen Krisenstab. Von den Gesellschaftern über die Geschäftsführung bis hin zum Einkauf, der Planung, der Logistik und des Vertriebs waren dort alle vertreten. „Jeden Morgen haben wir uns zusammengesetzt, online natürlich, weil alle zu Hause waren.“ Der Markt habe „verrückt“ reagiert. „Plötzlich kamen im März Bestellungen, bei denen wir fast in Ohnmacht gefallen sind. In unserem Lager wussten sie gar nicht mehr, wie sie das alles abarbeiten sollten.“ Kunden mussten über Lieferverzögerungen informiert werden. „Es war nicht wie beim Toilettenpapier, aber auch Babynahrung wurde stark nachgefragt“, stellt Gebhard klar.

Als Extrembeispiel nennt er die Bestellung eines „großen Onlinehändlers mit ‚A‘ aus Amerika“, womit er also Amazon gemeint haben dürfte. Der Händler orderte demnach plötzlich 17 LKW von einem Artikel, von dem er normalerweise pro Bestellung nur drei bis vier Paletten bezieht. „Das ging natürlich nicht“, sagt Gebhard. Bei den Bestellungen gab es in der Zeit der schlimmsten Phase ein extremes Auf und Ab.

Nach den vielen Bestellungen im März ging der Lagerbestand stark nach unten. Hipp habe die Produktion massiv hochgefahren, auf einen Dreischichtbetrieb an sieben Tagen in der Woche umgestellt, um lieferfähig zu bleiben und den stark erhöhten Bedarf zu decken. „Wir wussten nicht, was kommt.“ Nichts sei mehr planbar gewesen. Die Lagerbestände stockte das Unternehmen daraufhin deutlich auf.

 

Große Probleme bei internationalen Transporten

Weitere Herausforderungen gab es in der Seefracht. Ab März war der Seeverkehr zusammengebrochen, die Preise für Kühlcontainer (Reefer) schnellten in die Höhe. „Aus China kam nichts mehr, die Schiffe waren alle blockiert“, sagt Gebhard. Das war für Hipp vor allem ein Problem, weil China ein wichtiger Absatzmarkt ist. Mehr als 50 Prozent des Umsatzes macht Hipp mittlerweile im Ausland.

Insgesamt gestalteten sich die internationalen Transporte allerdings schwierig. Denn hinzu kamen die Probleme an den Grenzen in Europa. Die sechs Produktionsstandorte von Hipp sind über sechs Länder verteilt und befinden sich in Pfaffenhofen, zwischen München und Ingolstadt, in Österreich, in der Schweiz, in Kroatien, in Ungarn, in Russland und der Ukraine. Hipp konnte laut Gebhard zum Beispiel plötzlich nicht mehr von Kroatien nach Italien liefern und mussten die Transporte über Deutschland umleiten und dort umladen. „Das hat extrem viel Geld und Zeit gekostet“, sagt er. Oder Richtung Polen: Dort gab es kilometerlange Staus an der Grenze zu Deutschland. „Die Speditionen weigerten sich nach Polen zu fahren, aus Angst, ihre Fahrer da nicht mehr herauszubekommen.“

Die Zusammenarbeit mit den Logistikdienstleistern habe „toll“ funktioniert, berichtet der Manager weiter. Das gelte insgesamt für die Lebensmittelversorgung in Deutschland. Auch die Zusammenarbeit auf logistischer Ebene mit dem Handel lobt er. „Das Verständnis bei Verspätungen war hier groß, die Lager waren nachts und am Sonntag geöffnet und es wurden auch komplette LKW-Ladungen angenommen“, zählt Gebhard auf.

Für 300 EUR von Hamburg nach Österreich

Die Flexibilität im Lager sei zudem extrem wichtig gewesen, da die LKW nicht mehr zu den vereinbarten Zeiten ankamen. Rundläufe existierten nicht mehr, weil die Frachtführer zum Teil keine Rückladungen mehr hatten. Die Transportpreise innerhalb Deutschlands seien zeitweise in den Keller gegangen, weil das Geschäft in anderen Branchen, wie zum Beispiel der Autoindustrie, zusammengebrochen war.

Die Preise waren laut Gebhard teilweise deutlich unter dem Normalniveau. „Ein Spediteur sagte mir zum Beispiel, dass er von Hamburg nach Österreich, wo wir ein Werk haben, für 300 EUR fahren würde, weil er nichts anderes hat.“ Diese Situation habe Hipp aber nicht ausgenutzt und weiterhin „normale“ Preise gezahlt, sagt Gebhard, natürlich auch mit dem Blick in die Zukunft, wenn Transportkapazitäten wieder knapp werden könnten.

Weiterhin erhöhte Sicherheitsbestände

Zusätzliche Schutz- und Hygienemaßnahmen im Lager und der Produktion erschwerten die Arbeit. Die Produktion laufe mittlerweile zwar wieder im Normalbetrieb. Sicherheitsbestände bei den wichtigsten Artikeln seien aktuell aber immer noch von hoher Bedeutung, um die Lieferfähigkeit in jedem Fall sicherzustellen, sagt Gebhard weiter. Hipp hatte sogar zusätzliche Lager angemietet, aus Angst, dass bestehende Fertigwarenlager wegen der Pandemie von Behörden geschlossen werden könnten. „Das hat uns viel Geld gekostet, aber es war uns wichtig, dass wir zumindest bei den A-Artikeln immer lieferfähig sind.“ Die Fertigwaren wurden deshalb auf verschiedene regionale Lager verteilt. „Zudem haben wir mit dem Marketing ein krisenfestes Sortiment definiert, das wir ausliefern können, selbst wenn wir nicht mehr produzieren können“, sagt der Manager weiter.

Auf der Beschaffungsseite wurden die Rohwaren in Risikoklassen eingeteilt, um sich hier ebenfalls gezielt zu bevorraten. Angesichts der hohen Qualitätsstandards bei den Artikeln verfügt Hipp nicht bei allen Rohwaren über mehrere Lieferanten, weil diese schwer zu finden seien, sagt Gebhard. Das Unternehmen habe trotzdem versucht, ein Dual Sourcing aufzubauen. Zusätzlich versuche Hipp nun, auch mehr Transparenz in die Supply Chain zu bekommen. „Die großen Lieferanten binden wir jetzt deutlich besser mit ein“, sagt Gebhard.

Arbeitswelt verändert sich

Am wichtigsten in solch einer Krise seien die Reaktionsgeschwindigkeit, eine klare Führung und ein konsequentes Handeln. Im Rahmen der Möglichkeiten müsse man relativ schnell wissen, was man tun muss, bringt es Gebhard auf den Punkt. Abgesehen von den Mitarbeitern seien funktionierende IT-Systeme die Basis und der Schlüssel zum Erfolg. Die Arbeit im Homeoffice bezeichnet Gebhard bei dem Familienunternehmen als „Paradigmenwechsel“. Die Onlinekommunikation über digitale Tools sei neu gewesen. Hier rechnet er auch mit einer dauerhaften Veränderung der Arbeitswelt. „Die tägliche Anwesenheit von mehreren hundert Mitarbeitern gehört der Vergangenheit an“, ist der Manager überzeugt. „Es muss nicht mehr und wird auch nicht mehr jeder von Montag bis Freitag ins Büro gehen.“ Auch die Zahl der Geschäftsreisen werde sich deutlich reduzieren. Gebhards erste Reise seit Januar war der Flug von München nach Berlin zum Logistik-Kongress. „Mich hat am Münchner Flughafen fast der Schlag getroffen. Es war einfach niemand da.“

Die Lage spitzt sich wieder zu

„Frachtpreise steigen gerade extrem“

Die Frachtpreise für LKW-Transporte Richtung Italien, Frankreich und Spanien gehen Peter Gebhard zufolge derzeit extrem in die Höhe. Von den Frachtführern habe er erfahren, dass es angesichts nachlassender Konjunktur auf diesen Strecken keine Rückladungen mehr nach Deutschland gebe. Wichtige Handelspartner wie Frankreich oder Spanien haben derzeit mit deutlich höheren Infektionszahlen zu kämpfen. Und auch Italien wird jetzt wieder voll von der Pandemie erfasst, die Coronazahlen steigen rasant. Deutschland hat bereits auf die Entwicklungen reagiert: Das Robert-Koch-Institut (RKI) hatte am Donnerstagmorgen weitere Regionen und Gebiete Italiens als Risikogebiete ausgewiesen.

Bleiben Sie ganz nah am Kongressgeschehen und verfolgen Sie unsere zeitnahe Berichterstattung über den Deutschen Logistik-Kongress 2020 auf unserer Sonderseite.

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