Blickpunkt Handel: Logistik liefert den Gewinn

Es ist eine Zeit, die von vermeintlichen Omni-Krisen geprägt ist, in der permanent neue und alte Gefahren auftreten und in der es immer wieder zu Disruptionen kommt. Dabei bedeutet das aus dem Griechischen stammende Wort „Krise“ lediglich „Entscheidung“ oder „Übergang“, jedoch nicht „Untergang“. Es geht um Veränderungen, die intensiv wirken können, oft aber in Bezug auf ihre Relevanz, ihre Konsequenzen, ihre Eintrittswahrscheinlichkeit und ihre zeitliche Umsetzung erheblich überschätzt werden.
Aus Sicht eines Trendforschers, der die Entwicklungen im Handel und in der Handelslogistik seit nunmehr 25 Jahren beobachtet, einordnet und kritisch begleitet, wäre es opportun, angenehm und lukrativ, auf den ständig neuen Wellen der angeblich disruptiven Technologien, Geschäftsmodelle, Megatrends und Krisen zu „surfen“. Dabei ist ein solches „Trenden“ oft eher ein selbstreferenzielles System mit altem Wein in neuen Schläuchen, in dem jeder Hype mit einem langfristigen Trend gleichgesetzt wird. Entscheidend für den Erfolg der verkündeten Botschaft ist meist allein das „Narrativ“ (oder neudeutsch „Storytelling“), ein weiteres Unwort der aktuellen Zeit.
Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend
Positiv formuliert, reduzieren Trends die in den vergangenen Jahren enorm gestiegene Komplexität an Informationen. Bei allen anstehenden Veränderungen sind allerdings auch immer Gegentrends zu berücksichtigen. Jeder Trend ist damit verbunden, dass er aus einer Plateau-Phase, also der alten Normalsituation, zunächst einen steilen Aufstieg erlebt (neue Normalsituation) und danach in einer Sättigungsphase wieder abflacht. Viele solcher Wendepunkte, an denen man sich die neue Normalität noch nicht angemessen vorstellen kann, sind heute erreicht.
Die Globalisierung war und ist einer der Schlüsseltrends der letzten drei Jahrzehnte, die die Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle von Unternehmen sowie das politische und gesellschaftliche Leben, grundlegend verändert hat. Gleichzeitig zeigen uns die Machtinteressen und damit verbundene globale Konflikte um Energiequellen, Rohstoffe, Ernährung und Handelswege zunehmend die Grenzen der Globalisierung auf. Die wachsende Bedeutung von geostrategischen Einflüssen sowie ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit führt zu bislang kaum für möglich gehaltenen De-Risking-, Regionalisierungs- und Glokalisierungsbewegungen mit Near- und Friendshoring-Ansätzen.
Ein weiteres Beispiel ist die Digitalisierung als kollektiv verbreitetes Informationsmuster mit Auswirkungen auf alle Lebens- und Arbeitsbereiche, deren Versprechungen und Illusionen von einer einfachen (effizienten), komfortablen (convenienten) und weniger komplexen – kurz gesagt besseren – Welt sich für viele Menschen und Unternehmen (noch) nicht erfüllt haben. Auch in Bezug auf die signifikant gestiegene Individualisierung, die teils überbordende Konsumorientierung und die Convenience-Haltung sind – wenn auch nicht in großem Ausmaß – erste Sättigungstendenzen zu erkennen.
Die Welt ist „BANI“
Von einer Meta-Ebene aus betrachtet, ergibt sich eine von Brüchigkeit, Angst, Nicht-Linearität und Unverständlichkeit geprägte Welt. Ein geeigneter Ansatz, der den Denkrahmen für potenziell relevante Trends in der Handelslogistik vorgibt, ist das von Jamais Cascio im Jahr 2020 geprägte BANI-Konzept (brittle, anxious, non-linear, incomprehensible). Es vermag die aktuelle und mittelfristige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gemengelage besser zu beschreiben und zu erklären als das seit mehr als 30 Jahren verwendete Credo der VUCA-Welt, in der alles volatil, unsicher, komplex und ambivalent war.
Überträgt man BANI auf wirtschaftliche Zusammenhänge, ergeben sich vielfältige Interpretationsmöglichkeiten und strategisch relevante Anwendungsfälle.
Eine erste unmittelbare Erkenntnis aus den Herausforderungen der BANI-Welt sind zunehmend brüchige, unzuverlässige oder unkalkulierbare Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten und ein kaum noch zu prognostizierendes Kaufverhalten von Kunden mit massiven Auswirkungen auf eine zukunftsorientierte Ausrichtung krisenfester, flexibler und zugleich kostenoptimierter sowie serviceorientierter Logistiknetzwerke.
Zweitens steigt die Angst in vielen Unternehmen, komplexe, vor allem investitionsintensive, Business-Entscheidungen zu treffen (zum Beispiel Standort- oder Technologiewahl), in einem bisher wenig vergleichbaren Ausmaß.
Drittens bedeutet Nicht-Linearität, dass bekannte Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge oftmals nicht mehr gegeben sind und bisher verlässliche Ursache-Wirkungs- beziehungsweise Kausal-Zusammenhänge im Sinne von „Wenn ich das mache, dann werde ich Erfolg haben“, zunehmend fraglich und kaum noch vorhersehbar sind (spezifisches Know-how statt Erfahrungswissen).
Zuletzt sind in einer unbegreiflichen Welt Ereignisse oder Entscheidungen teils unverständlich. Entweder liegen die Ursachen dafür zu weit zurück oder sie sind zu komplex, um richtig klassifiziert zu werden. Manchmal stimmen Aktion und Reaktion nicht überein, so dass kleine Aktionen massive Reaktionen auslösen können – mit positiven oder negativen Erlebnissen – aber immer mit einem unvorhersehbaren Ergebnis.
In der Rückschau haben sich interessante thematische Wellenbewegungen in der Handelslogistik ergeben. Während die Nachrichtenlage 2021 – unter anderem durch die Corona-Pandemie und die Havarie der „Ever Given“ – noch stark von Beiträgen zu Resilienz geprägt war, stand im Jahr darauf – vor allem durch zahlreiche Initiativen auf EU-Ebene – das Thema Nachhaltigkeit im Vordergrund. Vor allem bedingt durch die Einführung von ChatGPT und das aggressive Wachstum von Temu dominierten Veröffentlichungen zu künstlicher Intelligenz und zu chinesischen Online-Marktplätzen die Jahre 2023 und 2024. Für das laufende Jahr 2025 läuft es offenbar auf einen herausfordernden Mix aus all diesen bereits bekannten Themenfeldern hinaus.
Fokus vor allem auf Effizienz und Effektivität
Gleichzeitig ist aktuell noch kein neuer Mega-trend in Sicht, der als „Lawine in Zeitlupe“ das Potenzial hat, die bekannten Themen zu überlagern. Handelslogistiker sind momentan eher mit der Abarbeitung oder Umsetzung der aus den vergangenen Jahren entstandenen Pflichten und Altlasten beschäftigt als mit grundlegend neuen Entwicklungen.
Im vergangenen Jahr lag der Fokus vieler Handelsunternehmen vor allem auf Effizienz und Effektivität. Es ist anzunehmen, dass sich dies fortsetzen wird und sich Kauflaune und Konsum-Triage auch im laufenden Jahr kaum verändern. Dies wird sich wie folgt auf die Handelslogistik auswirken:
Im Lebensmittelhandel ist von einer stabilen Geschäfts- und Mengenentwicklung und geringfügigen Wachstumsraten des Lebensmittel-Onlinehandels auszugehen („Gegessen wird immer!“). Allerdings nimmt der Wettbewerbsdruck für etablierte Food-Logistikdienstleister in der Abwicklung von Trockenware durch die Mengenrückgänge in anderen Handels- und Industriebereichen spürbar zu.
Im stationären Nonfood-Handel ist mit weiteren moderaten Marktbereinigungen und Mengenumschichtungen aus dem Stationär- in den Onlinehandel durch den zunehmenden Preis- und Wettbewerbsdruck internationaler Online-Marktplätze zu rechnen (vor allem Textilien, Dekorations- und Aktionsware). In der Folge finden weitere (moderate) Mengenabwanderungen aus der Stückgut-Filiallogistik in die Fulfillment- und KEP-Netze statt.
Die Wachstumsschere im Nonfood-Onlinehandel wird größer, wobei vor allem große, international ausgerichtete Marktplätze mit eigenen Fulfillment-Lösungen und aus Kundensicht relevante Nischenanbieter mit Differenzierungsmerkmalen an Bedeutung gewinnen. In Konsequenz geraten die vielen auf E-Commerce-Fulfillment spezialisierten Dienstleister und Start-ups weiter unter Druck und suchen nach neuen Mengen- und Servicepotenzialen. Das könnte die Tektonik des Marktes durch Übernahmen und Konsolidierungen beeinflussen und Marktstrukturen verändern.
Bei mäßigem Mengenniveau nimmt der Online-Bestellanteil im nach wie vor teils stark mittelständisch oder kleinbetrieblich geprägten Großhandel weiter zu. Gleichzeitig steigt der oftmals noch zu geringe Professionalisierungsgrad der Logistik durch Zusammenschlüsse, Übernahmen, Outsourcing und/oder puren Erkenntnisgewinn im Management.
Die servicebezogenen Kundenerwartungen in allen Bereichen des Handels nehmen eher zu als ab. Dies betrifft vor allem die prozessuale, strukturelle und systemische Vernetzung der einzelnen Vertriebskanäle aus Kundensicht. Die logistische Integration von B2C- und B2B-Lieferungen aus identischen Standorten und Beständen im Omnichannel-Handel, die bisher nur selten anzutreffen ist, gewinnt durch immer bessere technische und technologische Lösungen der Modularisierung, zum Beispiel in der Kommissionierung, weiter an Bedeutung.
Mehr denn je gilt es daher für Händler, die Klaviatur aus Preis und Sortiment, Convenience und Service sowie Relevanz und Kanälen zu beherrschen und ihre Geschäftsmodelle entsprechend auszurichten. In einer Handelswelt, in der „Sell Everywhere, Deliver Anywhere“ zum neuen Mantra zu werden droht,sind schlanke und zugleich anpassungsfähige Prozesse, Strukturen und Systeme in der Logistikabwicklung offensichtlich unabdingbar.
Vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen und unabhängig vom permanenten „Primat der Logistikkostenoptimierung“ ergeben sich für die Handelslogistik in den nächsten ein bis drei Jahren folgende Handlungsnotwendigkeiten:
Anzahl und Intensität von lokalen und/oder globalen Negativ-Ereignissen bleiben hoch. Handelslogistik-Netzwerke sollten daher massiv in ihre Fähigkeiten und Ressourcen zur Erreichung agiler und adaptiver Resilienz investieren.
Öko-Intelligenz, also die intelligente Business-Integration ökologischer Nachhaltigkeit, wird zur „License to Operate“ in der Handelslogistik. Handelslogistik-Netzwerke sollten ökologische Effekte einpreisen und bei jeder ROI-Berechnung als Korrekturfaktor berücksichtigen.
Anhaltende Risiken und zunehmender Ressourcenmangel treiben den weiteren Technologie-Einsatz. Sowohl der technologische als auch der gesellschaftliche Wandel erfordern neue Denkweisen, Arbeits- und Führungskulturen und verändern viele Jobprofile und notwendige Kompetenzen in der Logistik.
Lieferservices und „gute“ Logistik werden – unter anderem aufgrund von Investitionen in Resilienz, Nachhaltigkeit und Digitalisierung sowie zunehmender Ressourcenknappheit – signifikant teurer. Der Kostenanstieg wird höher sein als die technologiebedingten Rationalisierungs- und Produktivitätseffekte, so dass der Logistikkostenanteil im Handel weiter steigt.
Durch die „Triple Transformation“ (Resilienz, Nachhaltigkeit, Digitalisierung) verändert sich die Argumentationsbilanz der Make-or-Buy-Entscheidung. Eigene oder kooperativ eng angebundene Kompetenzen in der Beschaffungs- und der Distributionslogistik des Handels gewinnen weiter an Bedeutung.
Emanzipation der Logistik
Logistiker und Supply Chain Manager müssen in Handelsunternehmen mehr Aufmerksamkeit erhalten und gehören an den Tisch des Topmanagements. Darüber hinaus besteht nach wie vor ein teils erheblicher Mangel an explizit formulierten Logistikstrategien im Handel. Sogenannte War Rooms, die nur dann eingerichtet werden, wenn etwas Unvorhergesehenes in den Logistiknetzwerken der Unternehmen passiert, sollten sich zu einer festen Größe institutionalisieren und als Nukleus einer langfristig ausgerichteten Logistikstrategie fungieren.
Vertrieb und Marketing erzielen Umsatz – Logistik liefert den Gewinn! Mit dieser These ist auch der Wunsch nach einer weiteren Emanzipation der Logistik im Handel verbunden. Als abgeleitete Nachfrage ist die Handelslogistik noch zu oft im Reaktions- statt im Aktionsmodus. Bezogen auf die Geschäftsmodelle im Handel sollten sich unternehmerische Entscheidungen künftig noch intensiver an logistischen Machbarkeiten orientieren.
Vielleicht wird ja die Emanzipation beziehungsweise Gleichberechtigung der Logistik der nächste Megatrend im Handel. (cs)
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