Kampf um den Brenner

Seit Jahren gelingt es der Politik nicht, den Konflikt um die alpenquerenden Lkw-Verkehre zu lösen. Die Eskalationsspirale von Verboten und Gegenmaßnahmen dreht sich weiter – die Positionen scheinen verhärtet.

Wer wissen will, warum EU-Politik so unendlich mühsam sein kann, der muss nur einen Blick auf den Brenner werfen. Der Konflikt um die Transitverkehre durch Österreich schwelt seit vielen Jahren vor sich hin und eskaliert ungeachtet aller Lösungsversuche weiter. Österreich, Italien und Deutschland; Tirol, Südtirol und Bayern; Transportunternehmer der beteiligten Staaten und ihre Wirtschaft – alle eint nur eines: kaum deckungsgleiche Interessen. Und die EU-Kommission versucht verzweifelt, sich herauszuhalten und als Moderator zwischen den Parteien durchzukommen.

Lösungskonzepte gibt es mittlerweile etliche. Arbeitsgruppen tagen, Gespräche laufen. Wie aber werden aus Positionen Lösungen? Wie grenzt man berechtigte Interessen von egoistischen ab? Wer moderiert, wer agiert, wer führt, wer macht den ersten Schritt? Wir haben die Beteiligten gebeten, ihre Argumente darzulegen. Außerdem sollten sie klarstellen, bei wem sie welchen Handlungsbedarf sehen – und was sie selbst schon getan haben und noch tun können, um Bewegung in den festgefahrenen Konflikt zu bringen.

Verkehrspolitik Österreich

Die Situation am Brenner ist für die Menschen in Tirol durch ein massives Verkehrsaufkommen, insbesondere durch den Schwerverkehr, seit vielen Jahren eine Dauerbelastung, die an vielen Orten die Belastungsgrenze bereits überschritten hat. Jedes Jahr werden rund 2,5 Millionen Lkw über die Brennerachse gezählt. Der Lkw-Verkehr alleine über den Brenner ist mehr als doppelt so hoch wie auf allen Schweizer Alpenübergängen zusammen (975.000 Lkw/2018). Die Folge sind Überschreitungen der EU-Emissionsgrenzwerte für Luftschadstoffe, ein massives Lärmproblem und inzwischen auch ein massives Problem der Verkehrssicherheit. Entsprechend kann es auch keine Akzeptanz in der Lokalbevölkerung geben. Tirol hat mit „Schutz-Notmaßnahmen“ (etwa sektorale Fahrverbote) reagiert.

Die Ursachen sind der EU seit Jahren bekannt. Die verkehrspolitischen Rahmenbedingungen in der Schweiz, vor allem die hohen Mauten, verursachen 30 bis 40 Prozent Umwegverkehre in Österreich. In der EU ist die Mauthöhe hingegen im Wesentlichen durch das Vollkostenprinzip begrenzt. Deshalb müssen die Kilometertarife der Lkw-Maut gesenkt werden, sobald mehr Verkehr stattfindet.

Gespräche zwischen Österreich und seinen beiden Nachbarstaaten finden laufend statt. Für eine Lösung ist es notwendig, dass alle Seiten das Problem in Tirol anerkennen. Maßnahmen, die auf eine Verkehrsreduktion am Brenner, insbesondere des Schwerverkehrs, abzielen, müssen angestrebt werden. Die Rückverlagerung der Umwegverkehre aus der Schweiz und auf die Schiene ist nur mit einer Anhebung des Gesamt-Mautniveaus realistisch. Deshalb haben die betroffenen Regionen der drei Anrainerstaaten, Tirol, Bayern und Südtirol, erst kürzlich die Einführung einer Korridormaut von Kommission und Regierungen gefordert.

Verkehrspolitik Italien

Italien fordert die Rücknahme der einseitig von Österreich verhängten Verbote. Sie widersprechen dem Geist und dem Wortlaut der europäischen Verträge über freien Warenverkehr und Wettbewerb. Sie schaden italienischen und europäischen Transportunternehmen und den entsprechenden Wirtschaftszweigen. Und sie schaffen einen für die Stabilität des europäischen Binnenmarktes gefährlichen Präzedenzfall: Da die europäischen Institutionen in den vergangenen vier Jahren keine eindeutige Position bezogen haben, könnten sich andere Länder ermutigt fühlen, zum Schutz ihrer Einzelinteressen einseitige, gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Maßnahmen zu ergreifen.

Eine Beibehaltung oder gar Verschärfung dieser Verbote oder eine Erhöhung der Mautgebühren im Skandinavien-Mittelmeer-Korridor um bis zu 50 Prozent hätte nicht nur verheerende Auswirkungen für die italienischen und deutschen Spediteure, sondern ganz allgemein für die europäischen Volkswirtschaften.

Gleichzeitig verfolgt Italien entschlossen Maßnahmen zur Reduzierung des Straßengüterverkehrs, zur Verringerung der Umweltverschmutzung und zur Förderung der Verkehrsverlagerung auf die Schiene. So gibt es Anreize für den Einsatz von Euro-VI-Fahrzeugen der neuesten Generation. Das Schienennetz für den Personen- und Güterverkehr wird weiter ausgebaut: In den kommenden Jahren fließen mehr als 60 Milliarden Euro in die Erweiterung der Eisenbahninfrastruktur und die Anbindung an Häfen, Güterverkehrszentren und Flughäfen. Wie wir bereits mehrfach erklärt und gezeigt haben, sind wir weiter bereit, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern abgestimmte, praktikable Lösungen zu finden. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist jedoch die Einhaltung der Verträge.

2,5 Millionen

Schwerfahrzeuge fuhren 2021 über den Brenner – 4,5 Prozent mehr als 2020.

Verkehrspolitik Deutschland

Der Bund ist an einer Lösung interessiert, die ohne Sperrungen auskommt – im Dialog mit den Beteiligten wie den Anrainerstaaten Österreich und Italien sowie mit der EU-Kommission. Wir sind hier auf einem guten Weg. Hinsichtlich verkehrsbeschränkender Maßnahmen ist zu berücksichtigen, dass die Bundeszuständigkeit für die Ausführung der StVO nur für die Autobahnen gilt, im nachgeordneten Netz ist das Sache der Bundesländer.

EU-Kommission

Die EU-Kommission hofft, dass die betroffenen Mitgliedsstaaten ausgewogene Lösungen finden und sich gemeinsam auf ein Paket von Maßnahmen einigen, um die Probleme zu lösen. Auf Initiative und unter dem Vorsitz der EU-Kommission diskutieren Vertreter der Verkehrsministerien aus Deutschland, Italien und Österreich über Möglichkeiten, die mit der Verkehrssituation auf dem Brennerkorridor zusammenhängenden Probleme zu lösen. Diese Gespräche werden fortgeführt.

Anmerkung der Redaktion: Im Sommer 2019 wurden Arbeitsgruppen zu verschiedenen Unterthemen eingerichtet, die diese Gespräche führen sollen.

Verkehrspolitik Tirol

Unsere Maßnahmen gegen den überbordenden Transitverkehr beruhen alle auf rechtlich und fachlich geprüften Grundlagen. Der massive negative Einfluss des Transitschwerverkehrs auf die Umwelt, das Klima sowie auf die Gesundheit der Bevölkerung wird die Fahrverbote auch weiterhin rechtlich rechtfertigen. Die Brennerstrecke ist im Vergleich zu den anderen alpenquerenden Pässen viel zu günstig, weshalb wir seit Jahren eine Korridormaut zwischen München und Verona fordern. So würden wesentlich mehr Güter auf der Schiene transportiert werden, und wir würden den Brenner-Basistunnel von Beginn an effizient nutzen. Diesen Vorschlag kennen die bayerische und die deutsche Regierung. Mehr als mediale Ankündigungen zu dieser Lösung sind uns bisher allerdings leider nicht bekannt.

Wir haben in den vergangenen Jahren mehrmals den Dialog auf politischer und fachlicher Ebene bemüht und organisiert. So wurde 2019 der Berliner 10-Punkte-Plan vorgestellt, der weitere konkrete Lösungsschritte zum Inhalt hat. Tirol hat seine darin festgeschriebenen Verpflichtungen zur Entlastung der Transitstrecke bereits umgesetzt. Erst im Mai dieses Jahres wurde die fünfte EUSALP Mobilitätskonferenz vom Land Tirol organisiert, bei welcher sich politische VertreterInnen und 70 ExpertInnen aus den 15 Alpenregionen zur Verlagerung des Lkw-Verkehrs drei Tage lang in Innsbruck zusammenfanden. Trotz Einladung waren bei dieser hochkarätigen Veranstaltung keine politischen VertreterInnen aus Deutschland mit dabei.

Wir werden auch weiterhin den Dialog und den konstruktiven Austausch suchen. Denn der Transitverkehr ist kein singuläres Problem von Tirol, sondern ein gesamthaftes Problem der Region, das nur gemeinsam gelöst werden kann.

Verkehrspolitik Bayern

Alle Beteiligten müssen weiterhin gemeinsam an der Bewältigung des Brennertransits arbeiten und dafür primär mehr Verkehr von der Straße auf die umweltfreundlichere Schiene verlagern. Zudem muss Tirol die Durchfahrtszeiten für Lkw erhöhen und deswegen das Nachtfahrverbot lockern. Grundlage für die Zusammenarbeit kann weiterhin der Zehn-Punkte-Plan sein, der im Juli 2019 zur Entlastung des Brenners beschlossen wurde. Einseitige Restriktionen wie die Blockabfertigung und das Nachtfahrverbot durch Tirol bringen uns dagegen nicht weiter. Sie verlagern den Verkehr nur auf die andere Seite der Grenze und schaffen systematisch Verkehrsprobleme in Bayern.

Bayern bietet auch weiterhin an, sich beim Bund für eine Erhöhung der Maut auf der Strecke einzusetzen. Auch bei Vorschlägen für eine bessere Verkehrssteuerung bringen wir uns gerne konstruktiv ein. Wir brauchen aber eine klare Perspektive für den Wegfall der Blockabfertigung und Lockerungen des Nachtfahrverbots. Bei der Blockabfertigung sind wir inzwischen an einen Punkt gelangt, wo im Sinne eines freien EU-Binnenmarktes gehandelt werden muss. Deshalb haben wir uns in einem Schreiben auch an die EU-Kommission gewandt und eine Lösung für den Alpen-Transitverkehr am Brenner gefordert – notfalls mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich.

Gewerbe Österreich (WKÖ)

Uns ist wichtig, dass EU-Recht und die Grundfreiheiten, die die EU ausmachen, eingehalten werden. Es müssen im Rahmen des rechtlich Möglichen praktikable Lösungen zur Transitproblematik gefunden werden. Dazu müssen sich alle Seiten bewegen – auch bei der verstärkten Verlagerung auf die Schiene, für die der dringend notwendige Ausbau von Zulaufstrecken zum Brenner-Basistunnel Bedingung ist. Nötig ist auch eine seriöse länderübergreifende Diskussion über eine Korridormaut.

National und auf EU-Ebene setzen wir uns für die Realisierung des 5-Punkte-Programms für die Zukunft des Alpentransits ein, das wir schon 2018 vorgeschlagen haben. Auch in unserem Mobilitätsmasterplan 2030 mit Lösungen der Verkehrswirtschaft für den Standort Österreich haben wir Vorschläge für die Verlagerung des Transitverkehrs unterbreitet. Dazu gehören beispielsweise:

  • Verlagerung auf CO2-neutrale Verkehrsträger am Ursprung des Verkehrsstroms, bei Verkehren aus Drittstaaten spätestens an den EU-Außengrenzen

  • Harmonisierung von Fahrverboten, regional und international abgestimmt

  • keine Fahrverbote für Fahrzeuge der modernsten Fahrzeuggeneration (Euro VI).

24 Tage

Blockabfertigung plant Tirol für das erste Halbjahr 2023. Im zweiten Halbjahr 2022 sind es 17.

Gewerbe Bayern (LBS und LBT)

Das Problem des zunehmenden Güterverkehrs ist ein gesamteuropäisches. Die Ladung, die mit Lkw über die Alpen transportiert wird, kommt ebenso wie die Fahrzeuge selbst nicht nur aus Bayern. Aber Bayern spürt die Einschränkungen gerade im grenznahen Inntal am meisten.

Die EU muss gegen Österreich endlich ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Wir werden auch weiterhin auf die EU in dieser Richtung einwirken und erwarten dabei klare Unterstützung durch die Bundesregierung. Der freie Warenverkehr ist eine der zentralen Grundfreiheiten der EU. Es gibt inzwischen mehrere klare Stellungnahmen auch innerhalb der EU-Generaldirektionen, die bestätigen, dass das Verhalten Tirols gegen EU-Recht verstößt.

Bayern und Deutschland müssen gemeinsam die Realisierung des Brenner-Nordzulaufes samt Ausbau der Terminalkapazitäten beschleunigen. Verlagerung von der Straße auf die Schiene braucht tatkräftige Unterstützung bei der Schaffung der erforderlichen Infrastruktur und keine Lippenbekenntnisse oder theoretischen Forderungen.

Soweit es kapazitativ, organisatorisch und wirtschaftlich abbildbar ist, werden die Verkehre schon heute im Kombinierten Verkehr abgewickelt. Die Unternehmen werden den Anteil aus Überzeugung und mit wirtschaftlicher Vernunft ausbauen. Dazu braucht es aber eine leistungsfähige Infrastruktur und Angebote der Bahnen, die Kombinierten Verkehr zu wettbewerbsfähigen Konditionen möglich machen.

Tirol muss die Blockabfertigung einstellen oder zumindest auf das absolut nötige Maß reduzieren – bei der Anzahl der Tage, aber auch bei der zeitlichen Ausdehnung an einzelnen Tagen. Die Begründung „Ein Tag im …“ darf nicht mehr ausreichen. Eine Aneinanderreihung von Blockabfertigungstagen über eine Woche und mehr darf es nicht geben. Das generelle Nachtfahrverbot muss für Lkw mit der Schadstoffklasse Euro VI aufgehoben werden – sie halten die Schadstoffgrenzwerte in Tirol schon zu allen Tageszeiten und an allen Messstellen ein.

Wir setzen uns dafür ein, dass es keinen Wettbewerb bei Verboten und Beschränkungen gibt, sondern einen Wettbewerb bei Innovationen, Digitalisierung und Liberalisierung im europäischen Schienenverkehr, der einhergeht mit der Abschaffung nationaler Besonderheiten.

Wünschenswert ist auch weiterhin ein Zeichen der Solidarität durch die tirolerischen und österreichischen Verbände und Unternehmen – zumal deren Mitglieder, insbesondere zwischen Kufstein und Brenner, dank ihres Standorts als „Ziel- und Quellverkehr“ eine Quasi-Monopolposition bei den Schutzregeln ihrer Landespolitik genießen. Sie würden damit in den Chor der Tiroler Wirtschaft einstimmen, die schon jetzt mit großer Mehrheit gegen die Maßnahmen eintritt.

Gewerbe Italien (ANITA)

Derzeit werden auf der Schiene über den Brenner fast genauso viele Güter transportiert wie durch den ultramodernen Gotthard-Tunnel in der Schweiz. Mehr kann die über 150 Jahre alte Eisenbahnlinie nicht schaffen. Zumindest bis zur Inbetriebnahme des Brenner-Basistunnels muss daher die doppelte nächtliche Autobahnmaut abgeschafft, das Nachtfahrverbot aufgehoben werden. Damit würden die umweltbelastenden und für die Fahrer unmenschlichen Lkw-Staus in Bayern verschwinden, der innertirolerische Pendlerverkehr in den Morgenstunden würde nicht mehr mit dem Lkw-Verkehr zusammentreffen. Laut offiziellem Tiroler Luftgütebericht überschreiten die Emissionen längs der Autobahn übrigens seit Jahren nicht mehr die europäischen Grenzwerte – trotz Verkehrszunahme. Allein deshalb entbehren die Restriktionen der rechtlichen Grundlage.

Alle anderen Lösungsvorschläge, von der Digitalisierung bis zum 10-Punkte-Plan, sind reine Makulatur und lösen das Problem nicht.

Durch den Brennerkorridor wurden 2019 Waren im Wert von 136,6 Mrd. Euro im Handelsaustausch mit Italien transportiert – rund 60 Prozent davon mit Deutschland. Dieser Handelsaustausch kann und darf nicht unterbrochen werden, da er für die italienische Wirtschaft lebenswichtig ist. Die italienischen Wirtschafts- und Transportverbände werden mit einem Gerichtsverfahren am europäischen Gerichtshof EU-konforme Maßnahmen einklagen.

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