Aus dem Rollstuhl ins Fahrerhaus

Holger Schönenberg hat als Verkehrspilot gearbeitet, Medizin studiert, war Vizeweltmeister im Segeln und hat gemeinsam mit Freunden ein Start-up in der TV-Show „Die Höhle der Löwen“ vorgestellt. Heute arbeitet er hauptberuflich in der Landesluftfahrtbehörde in Nordrhein-Westfalen und sitzt nebenberuflich für Sievert Logistik am Steuer eines 40-Tonners.
Ein beeindruckender Lebenslauf – auch ohne zu wissen, dass Schönenberg seit seinem 15. Lebensjahr inkomplett querschnittsgelähmt ist. Der Grund dafür: Eine schiefgelaufene Operation an der Lendenwirbelsäule, um einen gutartigen Tumor zu entfernen. Seinen Kindheitstraum wollte sich der heute 50-Jährige davon trotzdem nicht kaputtmachen lassen: „Ich hatte schon immer ein Faible für große technische Geräte. Und ich mag es, Verantwortung zu tragen“, sagt Schönenberg. „Weil ich unbedingt Pilot werden wollte, habe ich angefangen zu kämpfen.“
Schönenberg erwarb zunächst die Privatpilotenlizenz, wollte aber eigentlich als Berufspilot arbeiten. „Bei einer Verlängerungsuntersuchung habe ich den Arzt gefragt, warum ich eigentlich kein Tauglichkeitszeugnis für Berufspiloten bekommen kann. Dann hat er den entscheidenden Satz gesagt: Ich bin mir in Ihrem Fall nicht sicher, ob das wirklich nicht geht“, erinnert sich Schönenberg, der nach vielen Untersuchungen im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt tatsächlich die Eignung für die Pilotenausbildung zugesprochen bekam und diese in Essen absolvierte. „Irgendwann habe ich mich dann dazu entschieden, die Fliegerei zu verlassen. Mein persönliches Ziel war erreicht und es wurde Zeit für etwas Neues.“
Lkw mit Anpassungen
Seit dem Frühjahr 2024 arbeitet Holger Schönenberg nun als Berufskraftfahrer im Bereich Planentransporte für Sievert Logistik am Standort Lengerich. Um das zu ermöglichen, ließ der Transport- und Logistikdienstleister eine Zugmaschine speziell auf seine Bedürfnisse umbauen. Im Detail bedeutet das: eine Handsteuerung für Gas und Bremse, eine verschließbare Kiste für den Rollstuhl, daneben ein herausziehbarer Klappsitz, Haltegriffe, ein abnehmbarer Lift zum Ein- und Aussteigen, damit der Beifahrersitz benutzbar bleibt – und ein Rutschbrett, um selbst an- und abkoppeln zu können.
Umgesetzt wurden die Anpassungen von einem Fahrzeug- und Karosseriebauer aus Münster, der seit über 30 Jahren Umbauten für Menschen mit Handicap durchführt. Die Kosten für den Umbau lagen bei circa 30.000 Euro. Ein wichtiger Aspekt: Außerhalb von Schönenbergs Einsatzzeiten kann das Fahrzeug ganz normal von jedem anderen Kollegen gefahren werden.
„Meistens überlege ich gar nicht genau, wie alles konkret aussehen soll, wenn ich mir solche Projekte vornehme. Wichtig ist erst mal, sich auf den Weg zu machen – und allein kann man sowas sowieso nicht machen. Es braucht immer Menschen, die das auch gut finden und dich unterstützen“, weiß Schönenberg. Einer von ihnen war Karsten Bley, Geschäftsführer von Sievert Logistik: „Er sagte zu mir: Ich verspreche dir, du fährst bei uns – und das hat er dann auch gehalten. Dabei hatte ich zu dem Zeitpunkt noch gar keinen Führerschein.“
Das Problem: Es gibt nur eine Lkw-Fahrschule für Querschnittsgelähmte in Deutschland; die „Fahrschule am Bahnhof“ in Göttingen. „Der Chef, Udo Wichmann, ist davon überzeugt, dass Inklusion schon an den Stellen beginnen muss, an denen man eben nicht unbedingt damit rechnet – und dass es auch im Bereich Logistik Menschen gibt, die zum Beispiel nach einem Unfall erst mal nicht denken, dass sie trotzdem (noch) fahren können. Deswegen hat er seinen Fahrschul-Lkw umbauen lassen“, so Schönenberg. Den Führerschein absolvierte er in einem Kompaktkurs in neun Tagen, die Kosten von 10.000 Euro hat er selbst bezahlt.
Teamwork gefragt
Seine wöchentlichen Touren kann Schönenberg trotz Umbau und Führerschein aber derzeit nur gemeinsam mit seinem Kollegen Oliver Brock bestreiten, denn die Ladungssicherung der Planentransporte klappt nicht allein.
„Ich fahre und Olli macht die anstrengende Arbeit“, scherzt der 50-Jährige. „Aber ab und zu bin ich auch mit draußen und er wirft die Gurte rüber, dann machen wir es zusammen.“ Auf Dauer soll aber auch dafür eine Lösung gefunden werden: „Zum Beispiel durch vorgeladene Auflieger zwischen unseren eigenen Werken, auch im Containergeschäft wäre es möglich.“
Dass die Inklusion in der Logistikbranche aber noch am Anfang steht, ist auch Schönenberg bewusst. „Logistik ist ein Bereich, der noch nicht auf Menschen mit Beeinträchtigung ausgelegt ist. Das fängt schon bei Kleinigkeiten an: Man will beim Kunden etwas abliefern und zur Anmeldung führt eine Treppe hoch“, beschreibt Schönenberg die alltäglichen Probleme. Abhilfe schaffen könnten digitale Lösungen: „Je mehr Arbeitgeber dafür sensibilisiert werden, desto mehr Möglichkeiten werden sich eröffnen.“
Besonders in gewerblichen Berufen werden die Möglichkeiten für Inklusion oft als schwierig bis unmöglich abgetan. Frohnatur Schönenberg lässt sich davon nicht verunsichern: „Ja, es gibt Grenzen – ich werde zum Beispiel sicher kein Bergsteiger oder Polizist werden. Aber wo diese Grenze ist, das kann ich immer nur individuell für mich selbst bestimmen. Das kann keiner von außen.“
Auch mit Blick auf den Fahrermangel ist jeder Ansatz wichtig, um Menschen Jobs in der Branche zu ermöglichen, ist Sievert-Geschäftsführer Karsten Bley überzeugt: „So eine Lösung funktioniert zwar schon aus Kostengründen nicht im ganz großen Stil und auch nicht an jedem Standort – aber wir haben bewiesen, dass es geht.“