Estlands Blick nach Westen

Für Valdo Kalm gibt es kein Zurück. Der Chef des Tallinner Hafens glaubt nicht, dass bald über die beiden von der Hafengesellschaft betriebenen Güterumschlagplätze in Paldiski und Muuga wieder größere Mengen russischer Ladung umgeschlagen werden. Das machte der Manager Ende April beim ersten Deutsch-Estnischen Hafentag in der estnischen Hauptstadt deutlich.
Die Klarheit ist umso bedeutender, da sich womöglich bald ein Fenster für eine Wiederaufnahme der Geschäfte ergibt, die mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine und der daraus folgenden Sanktionen der EU gegen den Aggressor zum Erliegen gekommen sind. Denn fast zeitgleich mit dem Besuch einer Delegation der Häfen Hamburg und Lübeck an der Ostflanke der Union legte US-Präsident Donald Trump seinen Friedensplan für die Ukraine vor. Und der sieht unter Punkt 15 auch eine Aufhebung der seit 2014 verhängten Sanktionen gegen Russland vor.
Sowohl der estnische Transport- und Logistiksektor als auch die dortige Wirtschaft insgesamt haben in der Vergangenheit mit dem östlichen Nachbarn regen Handel betrieben. Etwa ein Drittel des Umschlagaufkommens sei im Zuge des Ukraine-Krieges verloren gegangen, gibt Kalm eine Größenordnung für die Häfen von Tallinn an. Noch 2021 war Russland zudem im Import hinter der EU der zweitwichtigste Handelspartner Estlands. Im vergangenen Jahr lief der estnisch-russische Außenhandel faktisch unter ferner liefen.
Trotzdem will Estland seinen Kurs der Westbindung beibehalten; und Deutschland samt seiner Häfen spielt dabei eine große Rolle. Der Lübecker Hafen wird beispielsweise schon heute dreimal wöchentlich durch die Fährreederei Transfennica mit Paldiski verbunden. Aus Hamburg gibt es drei wöchentliche Containerliniendienste nach Muuga. Das dortige Containerterminal, an dem Schiffe mit bis zu 14.000 TEU Kapazität abgefertigt werden können, gehört seit 2018 der HHLA.
Um die Attraktivität der Umschlagplätze zu erhöhen, investiert die Tallinner Hafengesellschaft sowohl in Paldiski als auch in Muuga in Industrieparks. Es gehe um erneuerbare Energien, aber auch klassische Industriegüter, unterstrich Kalm. Dabei spiele auch das verstärkte Nearshoring von Produktionen aus Asien nach Osteuropa eine Rolle. Tallinn könne darüber auch seine Hubfunktion in Richtung Skandinavien ausbauen. Die finnische Hafenstadt Helsinki ist Luftlinie gerade einmal gut 80 Kilometer entfernt und per Fähre in etwa drei Stunden zu erreichen. Es wird sogar darüber nachgedacht, unter der Ostsee einen Tunnel zwischen den beiden Hauptstädten zu bauen.
Weiteres Umschlagpotenzial verspricht die weitere militärische Aufrüstung sowohl in Estland als auch in anderen Nato-Staaten. Estland selbst will künftig 5 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Verteidigung stecken. Und da sich ein möglicher Konflikt zwischen Russland und der Nato wohl am ehesten in den baltischen Ländern entzünden würde, müssen die Häfen dort Dual-Use-fähig sein. Das heißt: Über die Kaianlagen müssen auch besonders schwere militärische Güter wie Panzer umgeschlagen werden können.
Dass Estland „Frontstaat“ ist, wurde auch bei dem Besuch der deutschen Delegation deutlich. Ein eigentlich mit dem estnischen Minister für Infrastruktur geplantes Treffen musste abgesagt werden, da dieser in einer Besprechung zu den Verteidigungsausgaben des Landes feststeckte. Und das ganz wortwörtlich, denn während die Runde mit dem stellvertretenden Staatssekretär für maritime Angelegenheiten, Kaupo Läänerand, sprach, saß der Minister abgeschirmt von der Außenwelt in einem Bunker unterhalb des Tagungshotels. Aus Sicherheitsgründen war er auch per Handy nicht zu erreichen.
Ein Projekt, dass neben einem zivilen auch einen strategisch-militärischen Hintergrund hat, ist die geplante Schienenverbindung Rail Baltica, welche die baltischen Länder in Polen an das europäische Normalspurnetz anschließen soll. Eigentlich sollte sie schon im kommenden Jahr eröffnet werden. Die Fertigstellung verzögerte sich aber immer wieder, so dass nun 2030 als Starttermin genannt wird.
Auf estnischer Seite wird eifrig gebuddelt und gebaut. 2028 sollen die Tests für den Güterverkehr beginnen. Und mit dem Hafen Muuga haben die Esten ein Ass im Ärmel. Denn der Hafen soll der einzige Seeumschlagplatz im Baltikum mit Anschluss an die Strecke werden.
Lübecks Hafenchef Sebastian Jürgens hob in Tallinn mit Blick auf die Rail Baltica vor allem das Potenzial hervor, eine deutliche Verlagerung der Verkehre zwischen dem Baltikum und Westeuropa von der Straße zu erzielen. „Zwischen Deutschland und Estland werden derzeit viermal mehr Waren per Lkw als über See oder Schiene transportiert“, sagte er. Lauri Ulm, der CTO der Rail Baltica, nannte eine Größenordnung von 36.000 Lkw mit Fracht aus oder nach Westeuropa, die monatlich auf Estlands Straßen verkehrten. Und in Hamburg träumt man schon davon, künftig eine direkte Schienenverbindung zwischen dem Hamburger Hafen und den estnischen Häfen aufbauen zu können. Dies würde Hamburgs Status als größter Eisenbahnhafen Europas untermauern.
In Tallinn wurden jedenfalls schon Berechnungen angestellt, wie lange die Züge wohl bräuchten. Eine erste Schätzung: In 24 Stunden müsste es wohl zu schaffen sein.