Die Zeitenwende ist eine Chance
Der Wandel sei beständig, heißt es. Manchmal verläuft er allerdings geradezu unvorstellbar schnell und radikal. So genügten zwei Tage im Frühjahr des vergangenen Jahres, um eine gut 30 Jahre währende Erfolgsperiode für Deutschland zu beenden, die Wohlstandsgesellschaft in ihrem Selbstverständnis zu erschüttern und der ganzen Volkswirtschaft eine umfassende Neuausrichtung aufzuzwingen. Der erste Tag war der 24. Februar – der Tag des russischen Einmarsches in der Ukraine. Der zweite war der 27. Februar, als Bundeskanzler Olaf Scholz seine schon heute historische Regierungserklärung hielt und eine „Zeitenwende“ beschrieb.
Drei Jahrzehnte Glückseligkeit
„Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, sagte er. Dies ist einerseits bitter, denn Deutschland lebte gut – mit billiger Energie aus Russland, Sicherheit aus den USA sowie China als zugleich günstigem Warenlieferanten und riesigem Absatzmarkt. Die Belege: Das Bruttoinlandsprodukt hat sich zwischen 1991 und 2021 auf 3,6 Billionen Euro mehr als verdoppelt. Dabei hat Deutschland in diesem Zeitraum Außenhandelsüberschüsse von in Summe 4,25 Billionen Euro angehäuft.
Dies sind beeindruckende und erfreuliche Zahlen. Es sind aber auch Zahlen, die eine Stärke vorgaukeln, die in Wahrheit keine ist. Stattdessen stehen sie für eine gleich dreifache Abhängigkeit, die wiederum dafür sorgt, dass dieses deutsche Geschäftsmodell nicht nachhaltig ist. Insofern war diese Zeitenwende – zumindest ökonomisch – überfällig und sollte damit nicht nur als bittere Notwendigkeit, sondern auch als Chance gesehen werden.
Deutschland muss nicht bei null anfangen
Diese Zäsur hat vielfältige Auswirkungen auf die Logistik. Lieferketten verändern sich grundlegend. Diversifizierung ist das neue Zauberwort. Logistikkonzepte müssen umgestellt werden, um künftig eine größere Resilienz sicherzustellen und Lieferausfälle zu vermeiden. Dabei hat das Jahr 2022 bereits Entwicklungen und Fähigkeiten zutage gefördert, die man in der Stillstands-Republik Deutschland kaum noch für möglich gehalten hat. So gelang es, innerhalb von gerade einmal einem Dreivierteljahr ein erstes LNG-Terminal in Wilhelmshaven zu eröffnen. Fristgerecht! Und weitere in Brunsbüttel und Lubmin werden bald folgen, womit ein erster entscheidender Schritt für eine umfassende Unabhängigkeit von russischem Gas gegangen ist.
Ein Meilenstein ist auch, dass es trotz dieser vielfältigen Herausforderungen gelungen ist, ein Planungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg zu bringen. Schließlich sind die langen Verfahren bei Vorhaben zur Modernisierung der Digital-, Energie- und Verkehrsinfrastruktur wohl der größte Hemmschuh für die Gestaltung des Zukunftsstandortes Deutschland. Dieses Momentum gilt es nun in das neue Jahr mitzunehmen.
Logistikern kommt bei der Gestaltung der Nach-Zeitenwende-Ära eine entscheidende Rolle zu. Sie sorgen dafür, dass Lieferketten resilienter werden. Sie schaffen die Möglichkeiten für eine so dringend notwendige, vermehrte Lagerhaltung beispielsweise bei Arzneimitteln, damit sich Zustände wie kurz vor Weihnachten nicht wiederholen. Und sie erschließen gemeinsam mit ihren Kunden neue Produktionsstandorte und Absatzmärkte.
Logistiker als Wegbereiter
Dabei haben viele Branchenunternehmen den notwendigen Wandel in gewisser Weise schon antizipiert und ihre Netzwerke beispielsweise schon in Richtung Afrika oder Südostasien ausgeweitet. Sie haben bereits stark in Supply Chain Visibility investiert. Und sie wandeln sich von reinen Energieverbrauchern zu Energielieferanten.
Die Logistik kann daher mit Zuversicht in das neue Jahr, ja die kommenden Jahre gehen. Denn sie wird gebraucht und kann gestalten. Es wird Zeit, dass der Begriff „Zeitenwende“ eine positive Konnotation erhält. Packen wir es an!