Dachser schlägt Stückgut ohne Scanner um
Eine Umschlaghalle in Erlensee, nicht weit von Frankfurt: Wer hier den Fachkräften für Lagerlogistik bei der Arbeit zusieht, muss ein geschultes Auge haben, um das Besondere in den Abläufen zu erkennen. Es scheint mühelos, wie schnell die Packstücke aus einem Lkw in der Halle oder ein anderes Fahrzeug verschwinden.
Erst im Vergleich zu ähnlichen Anlagen fällt auf, was die Niederlassung außergewöhnlich macht: Die Flurförderzeuge sind ständig in Bewegung, ohne Packstücke direkt bei der Entladung abzusetzen. Die Niederlassung Erlensee ist der erste temperaturgeführte Standort der Lebensmittelsparte des Kemptener Familienunternehmens, der mit einem digitalen Zwilling ausgestattet ist.
Das „Advanced Indoor Localization and Operations“-System @ILO registriert nicht nur den Standort jedes einzelnen Packstücks in der temperaturgeführten Umschlaghalle auf einen Meter genau – ohne dass die Mitarbeitenden dafür die Labels mit Handscannern auslesen müssten –, es sammelt auch wichtige Daten für den Umschlagprozess.
Das Resultat der Technik ist beeindruckend: „Pro Schicht sind wir beim Entladeprozess jetzt um bis zu 30 Prozent schneller als früher“, berichtet Thomas Schmalz, der das gemeinsame Forschungsprojekt mit dem Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik in Dortmund (IML) im Dachser Enterprise Lab für den Logistikdienstleister geleitet hat.
Sieben Jahre Forschung
Vor sieben Jahren begann die Entwicklung des Systems mit dem Auftrag, die Zukunft effizienter Umschlaganlagen für das Dachser Future Terminal zu ergründen, verrät Schmalz. Der Leiter des Produktionsmanagements in der Kemptener Unternehmenszentrale arbeitet an der Standardisierung von Gebäuden und Prozessen im Standortnetzwerk des Konzerns: „Wir verwenden beispielsweise europaweit einheitliche Baustandards mit einer einheitlichen Hallengeometrie und einem festen Torraster.“
Das in Zusammenarbeit mit den Dortmunder Forschern entwickelte Lokalisierungssystem verbessert die Effizienz des Packstückumschlags gleich auf mehreren Ebenen: Die Umschlaggeschwindigkeit ist durch den unterbrechungsfreien Transport ohne Scanvorgänge enorm gestiegen. Darüber hinaus ist die Position jedes einzelnen Packstücks jederzeit bekannt, auch sein Weg durch die Halle ist von Kamera zu Kamera dokumentiert.
Die Anlage ist zudem in der Lage, die Maße der Packstücke im laufenden Umschlagprozess zu ermitteln, ohne dass die Flurförderzeuge dafür an einer separaten Vermessungsstation Halt machen müssen. Die Genauigkeit liegt dabei im Bereich einer Abweichung zwischen 5 und 15 Zentimetern; das KI-basierte Vermessungssystem wird aber mit jedem neuen Packstück weiter trainiert.
Die deutlichen Handhabungsvorteile durch @ILO erzielt Dachser mit einem enormen technischen Aufwand. In einer 7.100 Quadratmeter großen Umschlaganlage wie in Erlensee sind beispielsweise rund 700 Kameras als optische Datenerfassungseinheiten im Einsatz. „Unser Anspruch ist, dass es nirgendwo auf der Fläche blinde Flecken geben darf“, begründet Sebastian Rysse, Leiter der Niederlassungen Erlensee und Koblenz von Dachser Food Logistics, die hohe Zahl.
Damit sie sämtliche Packstücke immer im Blick haben, müssen sie nicht nur gleichmäßig verteilt angebracht sein. Auch die Packstücklabel müssen besondere Voraussetzungen erfüllen, um immer zuverlässig erkannt zu werden. „Wir verwenden Datamatrixcodes mit größeren Pixeln mittig auf den Packstücken“, erläutert Schmalz.
Bislang müssen sie von den Dachser-Mitarbeitern bei der Verladung im Ausgangshaus oder bei der Entladung eintreffender Lkw erst noch erzeugt und aufgeklebt werden, dazu nutzen sie Handscanner und mobile Drucker. „Genauso wie beim Barcode mit NVE ist unser Ziel, dass die Labels zukünftig von unseren Kunden angebracht werden und sich perspektivisch auch als Marktstandard durchsetzen“, sagt der Prozessstandardisierer selbstbewusst.
Automatische Statuserkennung
Auch die Flurförderzeuge in der Umschlaganlage sind mit einem Datamatrixcode ausgezeichnet; die angeschlossene Software kann so erkennen, welche der sogenannten Doppelstockameisen welches Packstück aufnimmt, und verheiratet beide für den Weg durch die Halle anschließend zu einer Einheit. Gleichzeitig zeigt sie den Mitarbeitenden direkt bei der Packstückaufnahme ihren Zielplatz in der Halle an. Durch die Ausrichtung der Gabelzinken erkennen die Kameras anschließend zudem die Bewegungsrichtung und an einem freien Durchblick auch, wo das Packstück abgeladen wurde.
Die Software ist dazu in der Lage, den Status einer Sendung mit allen zugehörigen Packstücken im Transportmanagementsystem der Spedition ohne manuellen Scanvorgang automatisch zu setzen. „Theoretisch könnten wir sogar ohne Zwischenstopp auf einem Lagerplatz direkt aus einem Fahrzeug in ein anderes verladen“, unterstreicht Schmalz.
Damit erschließt @ILO weitere Effizienzpotenziale in angrenzenden Prozessen, die Dachser erst schrittweise umsetzen wird: Das System soll den Mitarbeitenden künftig Linienpositionen exakt nach der Beladereihenfolge vorgeben, die auf die Routenführung der Nahverkehrstouren optimiert ist. Zudem erlaubt es eine dynamische Nutzung der Hallenfläche, um je nach Sendungsaufkommen kürzere Umschlagwege zu ermöglichen.
Mit dem Einsatz in Erlensee hat Dachser den letzten Härtetest vor der Einführung des digitalen Zwillings im europäischen Netzwerk erfolgreich absolviert. Denn das Material verträgt auch die für einen Stückgutstandort kühle Durchschnittstemperatur zwischen 2 und 7 Grad Celsius in der Niederlassung von Dachser Food Logistics.
Für das Lebensmittelgeschäft haben die Mitarbeitenden auch zusätzliche Auftrags- und Statusinformationen benötigt, berichtet Björn Stadtmüller, der Leiter des Transitterminals in Erlensee: „Bei uns spielen Ladezeitfenster und Zustelltermine eine noch größere Rolle.“ Deshalb hat die Dachser-IT die benötigten Informationen innerhalb eines Tages auf den Tablets der Flurförderzeuge ergänzt. „Dass die Technik so schnell auf seine Bedürfnisse angepasst wurde, hat unser Team begeistert“, erzählt er und fügt hinzu: „Alle arbeiten wirklich gerne mit der Anlage, auch unsere Fahrer sind froh, dass sie auf einem Rechner am Tor schnell selbst nachschauen können, wenn sie ein Packstück nicht finden.“
Praxistauglichkeit bewiesen
Bereits nach wenigen Wochen im Praxiseinsatz weiß Dachser nun, dass die Technik des Systems in allen Temperaturbereichen einwandfrei arbeitet. „Nur im Bereich unserer Kältemaschinen haben wir kleine Anpassungen an der Basisausstattung vorgenommen, die Kameras nicht direkt in den Luftstrom gehängt und die Anschlusstechnik isoliert“, berichtet Niederlassungsleiter Rysse. Weder beschlagen die Linsen der über 700 optischen Scaneinheiten noch ist es zu einer Betauung der Elektronikkomponenten gekommen.
Mit den Erkenntnissen aus der Installation in dem Lebensmittelhub für Deutschland und Europa startet Dachser nun in die nächste Phase der Implementierung des digitalen Zwillings: der Ausschreibung für das flächendeckende Ausrollen. „Wir statten perspektivisch jeden unserer Umschlagstandorte der Sparten Food Logistics und European Logistics mit einer Fläche von mehr als 2.000 Quadratmetern mit @ILO aus“, erklärt Bereichsleiter Schmalz und fügt hinzu: „Pro Jahr rüsten wir etwa zehn Niederlassungen um.“ Die Amortisationszeit für die aufwendige Ausstattung gibt er mit zwischen drei und vier Jahren an.