Industrie steckt in historischer Lieferkrise

Vorprodukte sind inzwischen fast überall knapp. Hohe Preise belasten viele deutsche Industriefirmen. Die Störungen dürften die Supply Chain Manager noch weit bis ins nächste Jahr hinein beschäftigen – und für Diskussionen beim Deutschen Logistik-Kongress sorgen.

In der Autoindustrie meldet inzwischen nahezu jeder Hersteller und Zulieferer Beschaffungsprobleme. (Foto: Istock)

Seit Monaten bereiten Materialengpässe Lieferkettenmanagern Kopfzerbrechen. Inzwischen berichten etwa acht von zehn Industriefirmen in Deutschland von Problemen bei der Versorgung ihrer Produktion. Mehr waren es seit der Wiedervereinigung nie, wie aus den Konjunkturumfragen des Ifo Instituts hervorgeht. Vor der Corona-Krise lag der Spitzenwert bei etwa 20 Prozent. Im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2020 waren es gerade einmal 5,4 Prozent. In der Autoindustrie meldet inzwischen nahezu jeder befragte Hersteller und Zulieferer Beschaffungsprobleme.

Nach einer Umfrage der GfK im Auftrag der KfW-Bankengruppe unter 2.400 kleineren und mittleren Unternehmen kämpfen 48 Prozent der deutschen Mittelständler mit den Folgen von Lieferproblemen. Die Engpässe „legen den kleinen und mittleren Unternehmen enorme Steine auf ihren Weg aus der Corona-Krise“, berichtet Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der staatlichen Förderbank. Rund jeder vierte Mittelständler kann den Angaben zufolge Liefertermine nicht einhalten, jeder zehnte muss sogar Aufträge ablehnen, weil es an Material fehlt.

Fast alle Branchen sind betroffen. Schwierigkeiten gibt es nicht nur bei Mikroprozessoren. Auch Stahl, Aluminium, Kupfer, andere Metalle, Kunststoffe und Verpackungsmaterialien sowie Holz für die Bau- und Möbelindustrie sind knapp. Viele Unternehmen hatten in der Corona-Krise ihre Kapazitäten zurückgefahren und können nicht so schnell auf die wieder anspringende Nachfrage reagieren. Hinzu kommen Staus in Häfen, fehlende Containerkapazitäten und Handelskonflikte.

Die Folgen haben im August bereits die deutsche Exportwirtschaft erreicht. Erstmals seit Mai 2020 lieferten die Unternehmen weniger ins Ausland als in einem Vormonat. Nach vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes (Destatis) sanken die Warenausfuhren gegenüber dem Vormonat bereinigt um 1,2 Prozent. „Steigende Frachtpreise und ein Mangel an Containern erschweren das internationale Geschäft und lassen die Preise für alle Marktakteure in die Höhe steigen“, sagt der neue Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Dirk Jandura.

Massive Preissteigerungen

Auch die Einkaufspreise für Rohstoffe und Materialien sind deutlich gestiegen und entwickeln sich zum Geschäftsrisiko für viele Hersteller. So legten die Erzeugerpreise im Euroraum laut Eurostat im August um 13,4 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zu. Das war der kräftigste Anstieg seit Beginn der Währungsunion 1999. Dabei verteuerten sich Vorleistungsgüter um 14,2 Prozent. In Deutschland stiegen die Erzeugerpreise im August um 12 Prozent. Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) war dies die höchste Rate gegenüber einem Vorjahresmonat seit Dezember 1974. Damals waren die Preise im Zuge der ersten Ölkrise stark gestiegen. Vorleistungsgüter waren im August etwa 17 Prozent teurer als ein Jahr zuvor. Hohe Preissteigerungen gab es vor allem bei Holz, Sekundärrohstoffen und Metallen.

Die weltweiten Lieferketten-Probleme machen sich zudem bei den Importpreisen bemerkbar. Diese lagen im August um 16,5 Prozent über dem Vorjahresniveau. Eine höhere Veränderungsrate hatte es nur im September 1981 gegeben (zweite Ölkrise). Die Entwicklung bei den Vorleistungsgütern hatte im August einen fast ebenso großen Einfluss auf die Einfuhrpreise wie die im Energiesektor. Vorleistungsgüter wurden im Vergleich zum Vorjahresmonat zu 20,4 Prozent höheren Preisen importiert. Gegenüber August 2020 verteuerten sich vor allem Erze, Metalle, Kunststoffe sowie Holz. Jeder vierte Mittelständler sieht sich laut der KfW-Umfrage von Anfang September gezwungen, wegen gestiegener Kosten für Rohstoffe und Vorprodukte die Preise für seine eigenen Produkte oder Dienstleistungen anzupassen.

Sowohl der Materialmangel als auch die Preissteigerungen beeinträchtigen zunehmend die Industriekonjunktur. So klafft eine große Lücke zwischen den Neuaufträgen und der inländischen Produktion. Im Juli übertraf der Auftragseingang das Produktionsniveau um ein Viertel. Das gab es seit der Wiedervereinigung noch nie. Der Auftragsbestand ist seit Juli 2020 stetig gestiegen und erreichte im Juli 2021 seinen höchsten Stand seit Einführung der Statistik im Januar 2015.

Im August sank die deutsche Industrieproduktion im Vergleich zum Vormonat um 4,7 Prozent. Im vom Halbleitermangel besonders stark betroffenen Automotive-Sektor fiel die Produktion im August gegenüber Juli um 17,5 Prozent. Die Lieferengpässe bei Vorprodukten bremsten aber nicht nur die Fertigung aus. Der Auftragseingang war laut Destatis 7,7 Prozent niedriger als im Juli. Der starke Rückgang folgt auf kräftige Anstiege in den Monaten Juli und Juni, die mitunter durch Großaufträge zustande kamen. Ohne Großaufträge ergab sich im August für die Auftragseingänge ein Rückgang von 5,1 Prozent.

Die aktuellen Umfragen für den Einkaufsmanagerindex (EMI), einem wichtigen Frühindikator, unterstreichen die rückläufige Entwicklung. „Wir sehen zunehmend, dass sich die Störungen in der Lieferkette nach oben arbeiten und sich in einer geringeren Nachfrage nach Vorleistungsgütern niederschlagen, da Aufträge entweder verschoben oder gleich ganz storniert werden“, sagt IHS-Markit-Analyst Phil Smith mit Blick auf die deutsche Industrie. So sei der Teilindex Auftragseingang im September in Deutschland auf ein 15-Monatstief gesunken. Einige Hersteller konnten wegen Kapazitäts- und Lieferproblemen keine Aufträge annehmen. „Andere meldeten einen regelrechten Einbruch der Nachfrage, da manche Kunden – hauptsächlich aus der Autobranche – die Produktion zurückgefahren haben“, sagt Smith weiter. Der Teilindex Produktion gab zum dritten Mal in Folge nach und sackte ebenfalls auf den niedrigsten Wert seit Juli 2020 ab.

Kein Entspannung in Sicht

Smith zufolge befürchten viele Hersteller, dass die Engpässe bis ins nächste Jahr andauern werden. Damit rechnen die Deutsche-Bank-Analysten Eric Heymann und Jochen Möbert ebenfalls, „auch wenn der Tiefpunkt in der Lieferkrise hinter uns liegen könnte“, schreiben sie in ihrer aktuellen Analyse und weiter: „Produktionskapazitäten können kurzfristig nur schwer erweitert werden. Manche Unternehmen werden sich bei Erweiterungsinvestitionen zurückhalten, wenn sie erwarten, dass der Nachfrageüberhang temporär ist. Bei einzelnen Produkten, zum Beispiel Halbleitern, dürften die Kapazitäten zwar hochgefahren werden, zugleich steigt aber auch die Nachfrage strukturell an.“ Die beiden Experten haben ihre Wachstumsprognose für die deutsche Industrieproduktion 2021 von 8 auf 6 Prozent nach unten korrigiert; 2020 sank die Fertigung um 9,6 Prozent. Für 2022 erwarten sie einen weiteren Zuwachs um 6 Prozent. Damit läge der Wert aber immer noch unter dem bisherigen Rekordniveau von 2018.

Ein schnelles Ende der Lieferengpässe erwartet auch der Mittelstand nicht. Nur 5 Prozent der betroffenen Unternehmen gehen laut KfW-Umfrage von einer Entspannung bis zum Jahresende aus. „Bis sich die Lieferengpässe auflösen, dürfte es dauern“, sagt Köhler-Geib. „Ich gehe aber davon aus, dass sich die Materialknappheit im Laufe der kommenden Monate zumindest etwas entschärft.“ Nachholeffekte könnten dann im kommenden Jahr einen Impuls für einen neuen Wachstumsschub geben.

Fachsequenz beim Logistik-Kongress

Die Pandemie und andere Ereignisse verdeutlichen, wie fragil die globalen Wertschöpfungsketten geworden sind und wie abhängig die Wirtschaft inzwischen von funktionierenden Lieferketten ist. In der Fachsequenz „Gute Lieferketten – resilient und transparent“ beim Deutschen Logistik-Kongress am 21. Oktober (ab 9 Uhr) in Berlin teilen Experten aus verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette ihre Ideen darüber, wie globale Lieferketten resilienter gemacht und wie sie gleichzeitig den steigenden Anforderungen an Transparenz gerecht werden können.

Infografik: Steigende Preise treffen Wirtschaft überall | Statista
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