Ist Qualität im Schienengüterverkehr möglich?

Die aktuelle Situation im Schienengüterverkehr ist unbefriedigend. Doch diverse Technologien, 
die aktuell eingeführt werden, erlauben, die Güterbahnen als modernen und 
leistungsfähigen Verkehrsträger weiterzudenken.

Die aktuelle Situation im Schienengüterverkehr ist unbefriedigend. Doch diverse Technologien, 
die aktuell eingeführt werden, erlauben, die Güterbahnen als modernen und 
leistungsfähigen Verkehrsträger weiterzudenken. (Illustration: DVZ)

Vielfach wird im Schienengüterverkehr Qualität so definiert, dass Ladung unversehrt zu einem vereinbarten Zeitpunkt ankommt, egal wie lange es dauert. Das ist jedoch ungenügend. Kurze Transportdauer und dennoch pünktlich zu sein, ist stattdessen ein notwendiges Qualitätsziel, um als Verkehrsträger mehr Ladung zu gewinnen. Zudem gilt die einfache Wirtschaftlichkeitsüberlegung, dass die Kosten über den Zeitbedarf definiert werden (Wagenmiete, Lokmiete, Trassenbelegung, Stundenlöhne), während die Erträge weitgehend entfernungsabhängig sind. Also ist auch aus Kostengründen schneller und pünktlicher Schienengüterverkehr notwendig. Als spurgeführtes Verkehrsmittel ist das prinzipiell möglich. Aber leider ist die Realität heute anders, da erratische Ereignisse zu Verzögerungen führen. Doch einige Technologien, die sich aktuell in der Einführung befinden, können hier zu Verbesserungen führen.

1. Digitale automatische Kupplung

Die digitale automatische Kupplung (DAK) ist die Grundlage für Innovationen im Schienengüterverkehr. Europa hat sich erst jetzt zu einer automatischen Kupplung durchgerungen, während die anderen Kontinente, vor allem Amerika und Asien, diesen Schritt schon vor 100 Jahren taten. Allerdings hat die europäische DAK nun wesentlich mehr qualitätssteigernde Eigenschaften als ihre Vorgänger. Sie überträgt nicht nur Längskräfte wie die anderen automatischen Kupplungen, sondern auch Luftanschlüsse (immer die 5-bar-Bremsleitung und optional auch 10-bar-Speiseleitungen, etwa für die pneumatische Klappenbetätigung oder Luftfederbälge an den Wagen). Zudem wird 110 V Gleichspannung übertragen und jeder Wagen darf im Mittel bis 40 W Leistung beziehen zum Betrieb von elektronischer Informationstechnik einschließlich Akkus für zeitweisen Stand-alone-Betrieb. Vier Datenleitungen werden ebenfalls vorgehalten. Die DAK ist somit nicht als isoliertes qualitätssteigerndes Element zu sehen, sondern auch als „Enabler“ für Innovationen, die in den weiteren Punkten genannt werden.

Am Ablaufberg kuppeln die Wagen mit DAK bei Berührung automatisch und stoßen sich nicht mehr bei Kontakt an den Puffern gegenseitig ab. Zeit wird so nicht nur durch den eigentlichen Kuppelvorgang gespart, sondern auch durch das nicht mehr nötige Beidrücken (das kuppelreife Zusammenschieben der Wagen eines Zugs). Die Kupplung kann zudem auf ferngesteuerte Entkupplung erweitert werden. Damit ist sie für den vollautomatischen, personenlosen Rangierbetrieb vorbereitet.

Die europaweite Ausrüstung von etwa 600.000 Güterwagen soll bis 2030 abgeschlossen sein. Aber der Nutzen tritt aufgrund flottenweiser Umstellung bereits deutlich früher ein. Heute ist schon der innerschweizerische Containerverkehr zwischen sechs Terminals voll umgestellt.

2. Automatische Bremsprobe

Die korrekte Funktion der Druckluftbremse muss vor jeder Zugfahrt nachgewiesen werden. Heute ist das eine sehr zeitaufwendige Prozedur mit Sichtprüfungen an jedem einzelnen Wagen. Durch Ausrüstung der Wagen mit Drucksensoren und Kommunikation zur Lok kann die Bremsprobe jedoch automatisiert werden, indem ein Auswerteprogramm vom Lokführer oder der Lokführerin per Knopfdruck angesteuert wird und auch die Ergebnisse digital gespeichert werden. Der reine Prüfvorgang kann so von heute typisch zwei Stunden auf zehn Minuten reduziert werden. Zudem werden durch eine Diagnosefunktion sich ankündigende Fehlfunktionen sehr viel früher als heute erkannt. Damit wird die Zahl der zufälligen Sonderbehandlungen von Wagen deutlich sinken.

3. On-Board-Diagnose

Um einen sicheren Betrieb zu gewährleisten, erfolgt heute mindestens einmal täglich eine optische Kontrolle der Wagen. Insbesondere Schäden an Laufwerk, Achslager, Radlaufflächen, Feder- und Dämpfersystem sind im Stillstand jedoch kaum oder erst in einem sehr späten Schadzustand zu erkennen und führen daher zu unerwarteten Betriebsstörungen.

Ähnlich wie bei der Bremsdiagnose erkennt die Mechanteildiagnose sich ankündigende Schäden sehr früh, in einem noch ungefährlichen Zustand. Auswertesysteme bündeln die Fehler und führen den Wagen zu einem Zeitpunkt, der die Transportaufgabe möglichst wenig stört, einer Werkstatt zu. Da die Wagen als Schweißkonstruktionen eine sehr gute Körperschallleitung aufweisen, kann mit sehr wenigen Beschleunigungssensoren und damit kostengünstiger Hardware, aber ausgeklügelter Softwareauswertung, ein sehr preiswertes und zuverlässiges Diagnosesystem installiert werden. Derartige Systeme sind aktuell in der Umsetzung und werden bald Früchte tragen.

Quanten

0 und 1 – Strom aus oder an.

Computer zerlegen alle Informationen in Binärcode, ob sie nun Texte verarbeiten, Bilder speichern oder autonomes Fahren ermöglichen. Doch die Herausforderungen werden komplexer, die zu verarbeitenden Datenmengen wachsen. Quantencomputer können die Lösung sein, denn für sie existieren diverse Möglichkeiten zwischen 0 und 1. Sie stecken noch in den Kinderschuhen, aber Forschende versprechen sich viel von dieser Technologie. Die Informationen werden mithilfe von Mikrowellen auf sogenannte Qubits geschickt – ein bisher sehr fragiles und auch unsicheres System mit unterschiedlichen Forschungsansätzen. Manche Unternehmen denken bereits an Anwendungen und starten erste Versuche etwa zur Stauvermeidung. Mit der Rechnerleistung eines Quantencomputers ließen sich vielleicht die Routen von Fahrzeugen vorhersagen und damit durch stetige Verkehrsbeobachtung dynamisch Staus vermeiden. Auch das Verkehrssystem Schiene und erst recht die sinnvolle automatische Verknüpfung verschiedener Verkehrsträger werden künftig nicht ohne größere Rechnerleis- tungen auskommen. Was Quantencomputing tatsächlich leisten kann – und was nicht – ist allerdings zum heutigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen.

tool.handelsblatt.com/specials/quantencomputer/

4. Fahrgeschwindigkeitserhöhung durch ETCS

Die schon lange beschlossene Einführung des Zugsicherungssystems European Train Control (ETCS) ermöglicht es, auf Außensignale zu verzichten und bis 8 km freie Strecke zu erkennen und zu sichern. Damit kann dort bei allen heutigen Güterwagen ohne Änderung die Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h statt 100 km/h angehoben werden. Gerade im Langstreckenverkehr ist das ein großer Nutzen.

5. Betriebliche Ergänzung

Eine weitere notwendige Verbesserung zur Qualitätssteigerung liegt in der Priorisierung der Infrastrukturnutzung. In Deutschland beispielsweise hat der Personenverkehr Vorrang vor dem Güterverkehr. In der Schweiz ist das anders: Dort wird anhand von Online-Fahrplanprognoserechnungen entschieden, welcher Zug im Verspätungsfall Vorrang genießt. Post- und Lebensmittelzüge etwa erhalten zusätzliche Priorität. Am besten wäre natürlich, dass der Konfliktfall nicht auftritt. Das setzt allerdings auch einen zuverlässigen Personenverkehr voraus. Hier sind aktuell gerade für Deutschland Lösungen wie Fernverkehrsaufgabenträger oder europaweite Korridormanager in der Diskussion. Wegen der positiv entschiedenen Einführung des Deutschlandtakts ist auch hier Handlungsdruck vorhanden, weil die gegenwärtige Verspätungssituation mit der Einführung nicht mehr beibehalten werden kann.

Schiene über den Status quo hinaus denken

Der Schienengüterverkehr befindet sich aktuell in einer technischen Umbruchsituation, die neue Qualitätsstandards ermöglichen wird – nämlich schnellen und pünktlichen Transport. Damit eröffnet sich die Möglichkeit signifikanten Wachstums, um signifikante CO2-Reduktionen in der Transportlogistik durch Modal Shift hin zur Schiene zu erreichen. Das ist nicht einfach nur ein frommer Wunsch, sondern wir befinden uns mitten in der Umsetzung der nötigen Schritte. (kl)

Prof. Markus Hecht leitet das Fachgebiet Schienenfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr, Fakultät V – Verkehrs- und Maschinensysteme, an der TU Berlin.

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