Resiliente Lieferketten: Mehr Lagerhaltung allein reicht nicht aus

Die Belieferung der Produktion ist störanfällig. Eine Lösung für mehr Versorgungssicherheit wären höhere Bestände. Doch das allein wird nicht genügen, um Supply Chains widerstandsfähiger zu machen. Ein Leitartikel von Robert Kümmerlen.

Lange galten Just-in-Time (JIT) und Just-in-Sequence (JIS) als das Nonplusultra der logistischen Produktionsversorgung. Allen voran die Automobilindustrie hat dieses Konzept immer weiter optimiert und damit die Prozesse sehr effizient gestaltet. Die Kosten ließen sich so dauerhaft niedrig halten. Lagerhaltung wurde minimiert, indem sie den Lieferanten oder Dienstleistern im Rahmen der Konsignation überlassen wurde. Haben diese ihre Standorte in der Nähe der Endmontage, genügen Bestandsreichweiten von einer Arbeitsschicht. Und wenn es doch mal knapp werden sollte, werden fehlende Teile eben im Zuge einer Notfalllogistik eingeflogen.

Just-in-Time lässt sich so wenig mit Resilienz in Einklang bringen wie Autobahnbaustellen und Höchstgeschwindigkeit. Risikokosten lassen sich ohnehin nur schwer kalkulieren, also werden sie ignoriert. Das ist verkraftbar, wenn Störungen die Ausnahme bleiben. In der Regel gilt die Teileversorgung im Produktionstakt als Aushängeschild für logistische Kompetenz und modernes Supply Chain Management. Daran war nichts falsch, der wirtschaftliche Erfolg der Automobilbauer sprach für JIS und JIT.

Resilienz: Top-Thema beim Deutschen Logistik-Kongress

Gleich in vier Diskussionsrunden oder Fachsequenzen beim diesjährigen Deutschen Logistik-Kongress spielt das Thema Resilienz eine Rolle. Los geht es am Mittwochnachmittag in der Podiumsdiskussion zum Kongressmotto „Supply Chains matter!“. Am Donnerstagmorgen folgt die Sequenz „Erfolgreiche Strategien zum Aufbau einer widerstandsfähigen Lieferkette“. Mittags geht es in einer Diskussion der maritimen Branche unter anderem um die Frage: Was können Spediteure, Umschlagbetriebe und Logistikdienstleister tun, um Lieferketten resilienter zu machen? Die Runde moderiert DVZ-Chefredakteur Sebastian Reimann. Parallel werden in der Sequenz „Innovations to go & Verleihung Wissenschaftspreis“ in fünf Kurzvorträgen unterschiedliche Bereiche von Logistik und Supply Chain Management beleuchtet. Dabei spricht Florian Stamer, Gruppenleiter Qualitätssicherung am Karlsruher wbk Institut für Produtionstechnik, zum Thema „Transparente Wertschöpfungsketten – Wie gezielter Informationsaustausch die Produktion von morgen effizienter und resilienter macht“.

Entspannung ungewiss

Doch nun ist die Welt eine andere. Die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben die Vorzeichen nachhaltig geändert. Seit mehr als zwei Jahren sind die Lieferketten der Automobilindustrie gestört, und wann es zu einer Entspannung kommt, vermag niemand so recht zu sagen. Vielleicht 2023, vielleicht aber auch erst viel später. Jedenfalls scheint es kein guter Rat mehr zu sein, einfach nur abzuwarten.

Volatilität, Agilität, Flexibilität zeichnen grundsätzlich eine leistungsfähige Logistik aus. Die Frage ist immer, wie sich diese Eigenschaften erreichen lassen. Im Wesentlichen sind die Logistikdienstleister dafür zuständig. Sie bekommen die Auswirkungen von Lieferkettenstörungen unmittelbar mit. Das Konzept der Agilität in dem Sinne, dass die Dienstleister Volumenschwankungen schon irgendwie abpuffern, ist längst überdehnt. Kurzzeitig sind Logistiker in der Lage, wohl so ziemlich jede unerwartete Situation zu handhaben. Auf lange Sicht brauchen aber auch sie Planungssicherheit und vor allem eine wirtschaftliche Stabilität. Wenn in den globalen Wertschöpfungsnetzen die bisherigen Konzepte nicht mehr richtig funktionieren, müssen Auftraggeber und Dienstleister gemeinsam nach Lösungen suchen. Damit steht das einst so gepriesene und erfolgreiche JIS und JIT auf dem Prüfstand.

Zur Neugestaltung von Lieferketten der Automobilindustrie gehört außer einer stärkeren Diversifizierung – und, wo es sich anbietet, Nearshoring oder lokaler Beschaffung – auch eine erhöhte Lagerhaltung. Diese Diese führt zwar zu höheren Kosten in der Logistik, ist aber notwendig. Denn eine höhere Produktionssicherheit hat eben ihren Preis. Lagerung und Bestandsverwaltung werden als Service für Hersteller immer wichtiger. Dienstleister sind daher dann gut aufgestellt, wenn sie über gut erschlossene, moderne Lagerflächen verfügen und diese flexibel den Auftraggebern anbieten können. Flächen sind allerdings knapp, Investitionen in Immobilien sind somit keine leichte Entscheidung.

Risiken einpreisen

Allerdings muss nicht nur die Logistik flexibel agieren, sondern ebenso der Einkauf. Maßgeblich sollte dafür künftig vor allem eine Gesamtkostenbetrachtung sein, die eben auch potenzielle Risiken einschließt. Um die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, wird es Umstrukturierungen der automobilen Lieferketten ebenso geben müssen wie höhere Lagerhaltung. In welchem Umfang das geschieht, ist von den bestehenden Strukturen eines Unternehmens abhängig – und den künftigen Rahmenbedingungen.

Ob es den Herstellern gelingt, die Produktionssicherheit zu erhöhen, ist also von vielen Faktoren abhängig. Ein Grundproblem bleibt allerdings: die Lieferantenabhängigkeit, die immer je nach Rohstoff oder Bauteil mehr oder weniger bestehen wird. Der stärkere Einsatz digitaler Tools kann helfen, Alternativen zu finden und zu vergleichen sowie wirtschaftliche, politische und finanzielle Risiken zu identifizieren. Dies sollten Unternehmen heutzutage genauso ernst angehen wie einst die Optimierung ihrer JIS- und JIT-Versorgung.

Dieser Artikel ist erstmals am 17. Mai 2022 auf DVZ.de erschienen. Wir wiederholen den Beitrag anlässlich des Deutschen Logistik-Kongresses in Berlin.

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