Handel: Logistik macht in Zukunft den Unterschied

Das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umfeld sowie die steigenden Kundenanforderungen fordern die Handelslogistik zunehmend heraus. So werden Effizienz und Flexibilität zum wesentlichen Paradigma. Warum Logistik im Handel immer wichtiger wird. Ein Gastbeitrag von Prof. Christoph Tripp.

Gastautor Christoph Tripp, Professor für Distributions- und Handelslogistik an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm. (Foto: Dierk Kruse)

Früher war alles volatil, unsicher, komplex und ambivalent. Diese Welt wurde in der Fachsprache mit dem Akronym VUCA umschrieben. Das ist aber zunehmend unpassend, um globale Zusammenhänge und Entwicklungen zu analysieren. Deshalb wird BANI von vielen als Nachfolger gesehen: Das Modell versteht die Welt als brüchig (brittle), ängstlich (anxious), nicht-linear (non-linear) und unbegreiflich (incomprehensible). Doch nicht nur das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umfeld fordert die Handelslogistik heraus. Zusätzlich wird sie durch die steigenden Kundenanforderungen unter enormen Druck gesetzt. So werden Effizienz und Flexibilität zum wesentlichen Paradigma und lassen die Logistik zu einem, wenn nicht sogar zu „dem“ Differenzierungsmerkmal erfolgreicher Händler werden. Aus diesen Erkenntnissen lassen sich fünf Thesen zur Zukunft der Handelslogistik ableiten.

These 1: Adaptivität, Resilienz und Verfügbarkeit sind künftig die maßgeblichen Serviceanforderungen.

Flexibilität und Robustheit – in Verbindung mit Waren- und Serviceverfügbarkeit – werden die Kunden der Handelslogistik künftig am meisten wertschätzen. Das ist eine unmittelbare Erkenntnis aus den Herausforderungen der BANI-Welt und den zunehmend brüchigen Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten und dem kaum noch zu prognostizierenden Kaufverhalten. Dabei gewinnen Auftrags- und Liefertransparenz weiter an Bedeutung. Eine möglichst schnelle oder angemessene Lieferzeit sowie Nachhaltigkeit werden künftig mehr oder weniger stillschweigend vom Konsumenten vorausgesetzt.

These 2: Services werden individueller, nachhaltiger, dezentraler und noch stärker datenbasiert.

Lieferservices werden stärker individualisiert in Bezug auf Orte, Zeiten und Zustelltage. Es wird Geschäftsmodelle geben, die nach dem Prinzip „Sell everywhere, deliver anywhere“ eine noch intensivere Personalisierung von Services anbieten. Kundennähe ist dabei essenziell, und zwar geografisch und datenbezogen. Damit sind vor allem Daten über das Kaufverhalten, logistische Präferenzen, kundenindividuelle Lebenssituationen, regionale Sortimentsspezifika sowie künftige Bedarfe gemeint. Dies untermauert den zunehmenden Trend zur Dezentralisierung von Logistiknetzen. Zugleich spielt die Transparenz über nachhaltiges Wirtschaften eine entscheidende Rolle für die Handelslogistik. Die EU fokussiert mit der Ökodesign-Richtlinie und dem digitalen Produktpass bereits auf die Recycelbarkeit und Ressourceneffizienz. Langfristig wird eine artikelbezogene Transparenz ökologischer Effekte erwartet werden.

These 3: Die hohen Convenience-Erwartungen im B2C-Handel übertragen sich rasant auf alle B2B-Geschäfte.

Man kann von einer ausgeprägten Gefahr der Commoditisierung von Services sprechen. Das heißt: Der Endkunde setzt kostenlose und qualitativ hochwertige Dienstleistungen voraus, ist aber kaum bereit, dafür zu zahlen. Es ergibt sich eine Service-Entwertung, so wie bereits bei den Zustellungen, Retouren, Sonderabwicklungen oder auch der außerordentlichen Umtausch-Kulanz großer Händler. Dies weitet sich schrittweise auf alle B2B-Geschäfte aus. Bei vielen B2B-Unternehmen ist dieser Effekt bereits in vollem Gange. Sie entwickeln zunehmend Marktplatz-Modelle, die sich in allen Belangen am B2C-Onlinehandel orientieren.

Der Autor

Prof. Christoph Tripp arbeitet als Professor für Distributions- und Handelslogistik an der Technischen Hochschule Nürnberg. Er verfügt über langjährige Praxis- und Beratungserfahrungen in der Logistikwirtschaft und fungiert dort regelmäßig als Gutachter, Moderator, Interviewpartner, Podcaster, Referent und Trainer. Tripp ist zudem Autor des 2021 in der zweiten Auflage erschienenen Fachbuches „Distributions- und Handelslogistik – Netzwerke und Strategien der Omnichannel-Distribution im Handel“.

These 4: Die Balance von Effizienz und Kundenansprüchen im Front- und Backend muss neu definiert werden.

Die Verschiebung von Stationärumsätzen in den Onlinehandel geht weiter, wenn auch langsamer als in den vergangenen Jahren. Zugleich regiert die FOMO-Angst: Fear of Missing out oder die Angst, etwas zu verpassen. Nicht jeder Mainstream ist sinnvoll für das eigene Unternehmen. Das betrifft zum Beispiel die hohen Investitionen in Läden und Services sowie die teils unbedachten Marktplatz-Strategien. In der Generation Z, also bei den zwischen 1995 und 2010 Geborenen, werden Bedarfe schon heute intensiv über Social Commerce, Social-Media-Apps und zunehmend im Metaverse geweckt. Künftig wird eine „Kanal Egal“-Einstellung das Kaufverhalten bestimmen. Händler müssen omnichannel-fähig werden, indem sie die Absatzkanäle technisch und organisatorisch integrieren. Nach dem Motto „Kunde vor Kanal“ geht es darum, den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen und nicht die Machbarkeiten und Optimierungen der eigenen Organisation.

These 5: Outsourcing gewinnt weiter an Bedeutung, zugleich sind ganzheitliche Make-Strategien sinnvoll.

Die Fähigkeit, sich flexibel an Hoch- und Unterauslastungssituationen anzupassen, ist ein entscheidender Erfolgsfaktor und stellt einen maßgeblichen Treiber für Outsourcing dar. Viele Händler definieren Logistik bereits als strategisch relevantes, differenzierendes Merkmal im Wettbewerb. Gleichwohl betreiben sie aus Kosten- und Risikogründen auf der Ebene der Lager- und Transportabwicklung umfassendes Outsourcing. Ihre Motivation liegt vor allem in ganzheitlicher Kunden- und Datenhoheit sowie in der Möglichkeit, Innovationen in eigenen hierarchischen Systemen schneller ausprobieren und umsetzen zu können als in marktorientierten Systemen mit externen Partnern. Zum Abfedern des Auslastungs- und Kostenrisikos in eigenen Logistiknetzen öffnen Händler zunehmend ihre Systeme für andere Händler und Hersteller im Sinne eines „Fulfillment by“-Ansatzes. Zahlreiche andere Akteure vergeben logistische Aufgaben allein aus Gründen der Skalierbarkeit, des Know-hows, der Professionalisierung und aus Kostengründen an Dienstleister.

Tipp: Expertenpanel beim Deutschen Logistik-Kongress

Prof. Tripps Thesen zur Zukunft der Handelslogistik werden in einer Fachsequenz beim Deutschen Logistik-Kongress noch einmal aufgegriffen, durch spannende Impulsvorträge zu aktuellen Entwicklungen ergänzt und von einem Expertenpanel diskutiert. Politische und wirtschaftliche Veränderungen sowie stetig wachsende Kundenanforderungen sind auch im Bereich der Handelslogistik an der Tagesordnung. Künftige Schlüsselthemen sind Anpassungsfähigkeit, individuelle Services, die Balance zwischen Effizienz und Kundennähe oder Outsourcing und Datenkompetenz. Operative Robustheit, Prognosekompetenz, Innovation, ökologische Nachhaltigkeit und verstärkte Partnerschaften werden unverzichtbar, um in der brüchigen, ängstlichen, nicht-linearen und teils unbegreiflichen BANI-Welt zu bestehen. Im Austausch mit dem Publikum wird das „Big Picture“ der Zukunft der Handelslogistik diskutiert.

Donnerstag, 19. Oktober 2023, 14 bis 15.30 Uhr, Hotel Intercontinental Berlin, Raum Potsdam I

Fazit 1: Operative Robustheit, Flexibilität und Prognosekompetenz sind unabdingbar.

Operative Exzellenz ist und bleibt der Schlüssel zum Erfolg in der Handelslogistik. Die Wettbewerbsintensität lässt den Preis- und Kostendruck weiter steigen, so dass striktes Kostenmanagement und effiziente Prozesse eine zentrale Herausforderung darstellen. Zudem werden permanente Kundennähe und Verständnis für die spezifische Kundensituation immer wichtiger. Daneben gewinnt Planungsexzellenz an Bedeutung. Es geht hier um strategische Planung, aber auch um das Bereitstellen echtzeitnaher Informationen für die operative Handelslogistik auf Basis möglichst präziser Prognosen und Bestell- sowie Bestandstransparenz über alle Funktionen und Kanäle.

Fazit 2: Datenkompetenz, Innovationen und Trial-and-Error-Kultur werden zu Standards.

Viele Händler sitzen auf enormen Datenschätzen, nutzen diese aber nur unzureichend. Datenanalysen müssen aber Kernkompetenz im Handel sein. Dazu gehören nicht nur kanalübergreifende Kundendaten über Kaufverhalten und Präferenzen, sondern vor allem zeit- und mengenbezogene Prognose-, Bestell- und Bestandsdaten auf allen Supply-Chain-Ebenen. Zugleich rücken Datensicherheit und Cybersecurity-Strategien in den Fokus. All das muss von einer langfristig verankerten Innovationsmentalität flankiert werden. Durch vordefinierte Strukturen, Prozesse und Systeme erreicht man zwar schrittweise Veränderungen, aber keine disruptiven Innovationen. Wirksamer sind Investitionen in Ökosysteme mit Start-ups, Inkubatoren und Technologie-Partnerschaften. Dafür braucht es einen Kulturwandel in den oft traditionell, hierarchisch geführten Unternehmen, der eine Trial-and-Error-Kultur und kurze Entscheidungswege voraussetzt.

Fazit 3: Ökologische und soziale Nachhaltigkeit werden zur Notwendigkeit.

Circular-Economy-Ansätze werden den Erfolg im Markt und beim Endkunden künftig stark beeinflussen. Bisher liegen die Prioritäten oft auf Themen wie zum Beispiel urbane Logistik, die den Anschein großer Lösungen versprechen, deren Beiträge aber überschaubar sind und in keinem Verhältnis zu ihrer medialen Aufmerksamkeit stehen. In Bezug auf Mitarbeiter ist Fluktuation der größte Produktivitätskiller. Hinzu kommt das Problem der Arbeiterlosigkeit in quasi allen Regionen. Daher braucht es einen branchenweiten „Deal“, der beinhaltet, dass Beschäftigte angemessen bezahlt und ihnen geeignete Arbeitsbedingungen ermöglicht werden, um sie langfristig zu binden. Werte und Wertschätzung sind ein strategischer Erfolgsfaktor.

Die übliche Reaktion in Krisen ist es, sich auf das eigene Unternehmen zu fokussieren. Egoismus und Selbstoptimierung sind die zu erwartenden Antworten. Das Gegenteil davon ist aber sinnvoll: In Krisen werden die wahre Leistungsfähigkeit und Vorteile enger Partnerschaften deutlich. In den nächsten Jahren bedarf es einer noch intensiveren Zusammenarbeit aller Supply-Chain-Akteure. Nur so lassen sich die Herausforderungen der BANI-Welt meistern. (cs)

Dieser Artikel ist erstmals am 1. April 2023 auf DVZ.de erschienen. Wir wiederholen den Gastbeitrag anlässlich des Deutschen Logistik-Kongresses in Berlin. 

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