Mitte September sorgte der Verband der Ernährungswirtschaft (VDEW) für Aufsehen mit der Warnung, es könne aufgrund der Energiekrise weitreichende Lieferengpässe in der Lebensmittelwirtschaft geben. Es könne regelrecht zu einem Kahlschlag kommen, der durch die Regale gehen wird. Hintergrund sind die zum Teil um das Fünfzehnfache gestiegenen Energiekosten. Dadurch seien Tausende von Betrieben in Deutschland in ihrer Existenz bedroht. Mittlerweile hat die Politik mit der Gaspreisbremse gegengesteuert.
Im Handel hingegen sieht man die Lage wesentlich entspannter. Weitreichende Lieferengpässe und somit Versorgungslücken über das gesamte Lebensmittelsegment scheinen noch kein realistisches Szenario zu sein. „Es gibt keinen Grund zur Sorge. Die Läger sind gut gefüllt, und die Warenversorgung ist gesichert“, teilt eine Sprecherin der Handelskette Rewe auf DVZ-Anfrage mit.
Ähnlich gelassen reagiert der Handelsverband Deutschland (HDE) in Berlin. Die Situation in den Lieferketten sei zwar nach wie vor sehr angespannt. Besonders betroffen seien derzeit Fahrradhandel, Unterhaltungselektronik und Spielzeug. „Für die betroffenen Handelsunternehmen ist diese Situation mit Blick auf das nahende Weihnachtsgeschäft sehr unbefriedigend, die Kunden müssen aber keine leeren Regale fürchten“, versichert ein HDE-Sprecher „Die Bestellungen für das Weihnachtsgeschäft sind meist schon vor einigen Monaten getätigt worden, viele Waren sind deshalb zwar mit Verspätung, aber doch noch rechtzeitig eingetroffen.“
In der Versorgung bestehen derzeit keinerlei Einschränkungen, teilt der Lebensmittellogistikdienstleister Dachser auf DVZ-Anfrage mit. Engpässe bestünden bei der Verfügbarkeit zusätzlicher Fahrzeugkapazitäten und im Personalbereich. Zudem machten sich die massiven Kostensteigerungen im Bereich Energie, Diesel und Paletten bemerkbar.
Laut Dachser stagnieren die Transportmengen auf einem hohen Niveau. „Tonnagezuwächse erwarten wir allerdings derzeit nicht.“ Allerdings werde die Abwicklung von Saisonspitzen, oder größeren Werbeaktionen (Promotions) immer herausfordernder. „Hier sind wir auf die Unterstützung aller Prozessbeteiligten wie Hersteller und Handel angewiesen“, betont Dachser. Eine gemeinsame Planung zur Vermeidung von Volumenschwankungen sei oberstes Gebot.
Trotz aller Beschwichtigungen macht sich der Einzelhandel Sorgen um den Nachschub. So klagten im August 77,5 Prozent der Einzelhändler über entsprechende Probleme, im Juli waren es 77,3 Prozent, wie das Ifo Institut mitteilt. Es sehe nicht danach aus, dass sich die Lage in der Vorweihnachtszeit entspannen werde, kommentiert Klaus Wohlrabe, der Leiter der Ifo-Umfragen.
Doch selbst wenn bestimmte Waren knapp werden sollten, können Kunden immer noch auf andere Produkte ausweichen. Die Engpässe schränken zwar die Auswahl ein, aber grundsätzlich sollten alle Produktkategorien erhältlich sein. So sieht es Handelslogistikexperte Prof. Christian Kille, Hochschule Würzburg-Schweinfurt. „Von einzelnen Produkten wird weniger in den Regalen stehen. Wir bekommen aber keinen Versorgungsengpass im Sinne von zu wenigen Waren, sondern eher von zu geringer Breite des Sortiments.“
Kille erwartet zudem ein anderes Anspruchsdenken der Konsumenten. „Dass wir immer alles zu jeder Zeit in ausreichender Menge erwarten, wird wahrscheinlich in den nächsten Monaten nicht mehr der Fall sein. Eine Konsolidierung findet auch seitens der Produktion statt, Marken verschwinden, andere werden den Marktanteil aufsaugen und damit die Vielfalt etwas reduzieren.“ Zugleich werden die Kosten weiter steigen und somit auch die Preise der Waren.
Mit Versorgungsengpässen aufgrund fehlender Logistik rechnet Kille hingegen nicht. Er sieht noch einen anderen Effekt: „In dem Zusammenhang werden Industrie- und Handelsunternehmen zur Sicherung der Logistikkapazitäten die vertragliche Bindung forcieren.“ Wie in anderen Branchen sei kein Unternehmen daran interessiert, wichtige Lieferanten oder Dienstleister zu verlieren. „Logistiker können aufgrund der Kapazitätsengpässe mittlerweile nicht mehr so leicht ausgetauscht werden.“
Bei Konsumelektronik sieht der Verband der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI) ebenfalls keine drohende Engpasssituation oder längere Lieferzeiten. „Die Bevorratung bei den Herstellern und im Handel ist aktuell gut. Alle sind auf das vierte Quartal – einschließlich der Sonderanlässe wie Black Friday, Fußball-WM und das Weihnachtsgeschäft – eingerichtet“, teilt der ZVEI mit. Außerdem sei vor dem Hintergrund der aktuellen Eintrübung des gesamtwirtschaftlichen Ausblicks davon auszugehen, „dass der Druck seitens der Nachfrage tendenziell abnehmen dürfte“.
Die aktuelle Datenlage zeigt dem ZVEI zufolge für die Weltwirtschaft eher ein Nachlassen der Supply-Chain-Probleme an. Demgegenüber sind die Materialengpässe innerhalb der deutschen Elektro- und Digitalindustrie weiterhin sehr groß. „Eine Entspannung ist nicht erkennbar.“ Laut Befragungen des Ifo Instituts geben 90 Prozent der Elektrounternehmen Materialknappheit derzeit als Produktionshemmnis an. Der ZVEI rechnet für sein Industriesegment eher mit einer zumindest teilweisen Entspannung vom aktuell historisch hohen Niveau als mit einer Verschärfung.