Vom Hersteller ohne Händler zum Kunden

Die Rolle von Logistikdienstleistern könnte sich künftig deutlich ändern. Das zeigt die Fachsequenz „Automobile Wertschöpfungskette neu denken“ beim Deutschen Logistik-Kongress in Berlin.

Kai Althoff, CEO 4Flow, bei der Sequenz „Automobile Wertschöpfungskette neu denken“. Foto: Bublitz/BVL

Die Volatilität in den automobilen Wertschöpfungsketten ist größer denn je. Mit dieser Feststellung leitet Kai Althoff, CEO des Beratungsunternehmens 4Flow in Berlin, eine Fachsequenz mit Experten der Automobilindustrie ein. Dies sei zugleich eine gute Nachricht für Supply Chain Manager und Logistikdienstleister, denn sie werden für die Automobilindustrie immer wichtiger, wenn es darum geht, Lieferketten stabil zu halten.

2020 wird in Erinnerung bleiben, zum einen wegen der enormen Belastung der Gesundheitssysteme durch die Coronapandemie, zum anderen wegen Nachfrageeinbrüchen und Fabrikschließungen und der Folgen für die globalen Wertschöpfungsnetze. Nichtsdestotrotz sieht David Pansinger, Logistikverantwortlicher bei Polestar Performance in Shanghai, neue Chancen in nächster Zukunft und vor allem deutliche Änderungen in der Rolle von Logistikdienstleistern. Nach Ansicht von Pansinger werden Logistiker künftig viel engeren Kontakt mit den Fahrzeugkäufern haben, denn die Dienstleister bringen die Fahrzeuge direkt zu den Kunden nach Hause, der Umweg über den Händler fällt weitestgehend weg.

Kunde soll keinen Stress haben

Polestar sieht sich eher als Digitalunternehmen, denn als Automobilhersteller. Der Anspruch ist, es dem Kunden so leicht wie möglich zu machen. Die Kunden kaufen direkt bei Polestar, und das Unternehmen begleitet die gesamte Nutzungsdauer. Wenn Wartung oder Reparaturen notwendig sind, wird das Fahrzeug direkt beim Kunden abgeholt und anschließend wieder zu ihm gebracht. Dafür werden speziell geschulte LKW-Fahrer benötigt. „Normalerweise enden die Services der Logistikdienstleister beim Händler“, sagt Pansinger. „Wir sehen das anders.“ Die Dienstleister sollen vielmehr eng in die Pflege der Kundenbeziehungen eingebunden werden.  

Es werden aber durchaus noch technische Services benötigt, bevor die Fahrzeuge an die Kunden übergeben werden. Das übernehmen in der Regel heutzutage noch die Händler. Pansinger will dies künftig lieber auf dem Transportweg erledigen und die Services zu den Logistikdienstleistern in die Logistikzentren verlagern. Für die Dienstleister bedeutet das laut Pansinger, dass sie nicht nur über große Autotransporter verfügen müssen, sondern auch über kleine Auslieferfahrzeuge, die bestenfalls noch mit dem Firmennamen gekennzeichnet sind. Der Dienstleister müsse fit sein in digitalen Anwendungen, technischen Services und im Umgang mit dem Endkunden.

Datentausch schafft Resilienz

„Die Automobilindustrie tritt in ein neues Zeitalter ein.“ So beschreibt Jean-Francois Salles, verantwortlich für die globale Supply Chain bei Renault, die derzeitige Situation. Die Käuferschicht wird jünger und wohnt größtenteils in Städten, Fahrzeuge verfügen über immer mehr autonome Assistenzsysteme, Antriebsarten ändern sich und die gesetzliche Regulierung für Fahrzeugverkäufe nimmt zu. Zugleich gibt es eine große Bandbreite mobiler Services, welche die Beziehungen zu den Kunden ändert.

Da die Supply Chains vielen Unwägbarkeiten ausgesetzt sind, sind für Salles resiliente Lieferketten wichtig. Daher müssten in den Lieferketten von einem Ende zum anderen eine große Menge Informationen weltweit getauscht werden. Renault erhält allein pro Tag über 15 Mio. Teile von den Zulieferern der ersten Stufe für weltweit 38 Produktionsstandorte. Über 8.000 fertige Fahrzeuge gelangen über die Ausliefernetze in den Markt.

Der für Produktion und Distribution nötige Informationsfluss gehe noch nicht leicht vonstatten, räumt Salles ein. Um dies zu verbessern, müssten mehr Standards für den Datenaustausch eingesetzt werden. So ließen sich unter anderem Produktionseffizienz, Auslieferzeit, LKW-Auslastung und Bestandsmanagement optimieren. Zudem sei man besser vor Lieferkettenstörungen geschützt.

Keine Zeit verlieren beim Kampf gegen das „Vuca-Monster“

Der Kampf gegen Vuca – also Volatility (Unbeständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit) beschäftigt auch Christoph Rochelmeyer. Er ist beim Zulieferer Magna in Untergruppenbach verantwortlich für globales Supply Chain Management. „Die Coronakrise zeigt, wie unvorhersehbar unser Leben geworden ist.“ Zeit ist für ihn ein entscheidender Faktor beim Kampf gegen das „Vuca-Monster“.

Tritt ein unvorhergesehenes Ereignis ein, „brauchen wir einige Zeit, bis wir die Daten ermittelt und ausgewertet haben, um die notwendigen Gegenmaßnahmen zu ergreifen“, sagt Rochelmeyer. „Diese Zeitspanne ist derzeit zu lang, wir können nicht wochenlang warten.“ Je schneller die Reaktion erfolge – innerhalb weniger Stunden oder Tage –, umso wirkungsvoller sei eine Gegenmaßnahme. „Daraus ergibt sich dann ein Wettbewerbsvorteil.“

Um in der Supply Chain schneller reagieren zu können, arbeitet Magna mit einem digitalen Zwilling. Dabei soll die gesamte Wertschöpfungskette von Zulieferern bis zu Kunden sowie der eigenen Produktion abgebildet werden. Das soll die Supply Chain transparent machen und ermöglichen, eine Unterbrechung schnell zu identifizieren. Die Gegenmaßnahmen sollen dann rechtzeitig eingeleitet werden, um zu verhindern, dass die Lieferketten zu den Magna-Kunden gestört werden.  

Prognosen in verschiedenen Zeiträumen

Entsprechende spezielle Implementierungsprojekte hat Magna bereits umgesetzt. Das Wichtigste dabei, so schick und schlau eine Lösung auch sein möge, ist Rochelmeyer zufolge wiederum die Datenqualität. „Eine unserer Hauptaufgaben ist, die Masterdaten in Einklang zu bringen.“ Das ist auch notwendig für ein zentrales Projekt bei Magna, der globalen Kapazitätsplanung. Beeinflusst wird diese unter anderem durch Bedarfsschwankungen der Kunden, zunehmende Variantenzahl und unterschiedliche Produktionskosten je nach Standort. Ziel ist eine Mittel- und Langfristprognose bis zu 24 Monaten sowie eine Kurzfristprognose innerhalb weniger Wochen.

Disruptive Ereignisse sind auch für den Zulieferer Bosch eine von vier Rahmenbedingungen, die eine neue strategische Ausrichtung erforderlich machen. Die anderen drei sind CO2-Reduktion, Elektrifizierung und Kostendruck. Laut Arne Flemming, Bereich Supply Chain und Logistikservices bei Bosch, gibt es bei dem Zulieferer eine große Diskussion über Flexibilisierung von Kosten. Der Fokus soll auf den Kernkompetenzen liegen, nicht auf der Logistik. Das beeinflusse Outsourcing- und Insourcing-Entscheidungen.

Resiliente Lieferketten benötigen laut Flemming drei Dinge: Transparenz, Flexibilität und Organisation. Vor fünf Jahren wurde bei Bosch die Anwendung Dali (Data Analytics Supply Chain) gestartet. Dabei handelt es sich um eine Online-Datenübermittlungsplattform. Damit in Zusammenhang steht eine Reihe von Lösungen, die Supply-Chain-Transparenz gewährleisten sollen.

So sei man jetzt in der Lage, bei Lieferengpässen von Rohmaterial sofort die Effekte auf die Produktion und die Kundenbelieferungen zu erkennen. Dies sei derzeit in der Coronakrise eine Hilfe. Mit verschiedenen Maßnahmen kann der Zulieferer dann gegensteuern, beispielsweise über Sicherheitsbestände oder alternative, regionale Beschaffungsquellen. Das System und die Lösungen rund um Dali will Bosch weiterentwickeln.

Bleiben Sie ganz nah am Kongressgeschehen und verfolgen Sie unsere zeitnahe Berichterstattung über den Deutschen Logistik-Kongress 2020 auf unserer Sonderseite.

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