Lieferketten: Beginn einer neuen Ära

Unternehmen reorganisieren ihre Wertschöpfungsnetze. Versorgungssicherheit ist das oberste Gebot. Länder in Zentralasien und Osteuropa könnten künftig an Bedeutung gewinnen.

Foto: dpa/ Marijan Murat

Der 24. Februar dieses Jahres markiert einen Epochenbruch. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat in erster Linie tausendfaches Leid verursacht. Der Krieg hat zugleich die Abhängigkeiten in der Weltwirtschaft sehr deutlich gezeigt. „Jahrzehntelange Verbindungen wurden gekappt“, beschreibt Cathrina Claas-Mühlhäuser, stellvertretende Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft (OA), eine Konsequenz des Krieges. Sie war Teilnehmerin einer Konferenz an der Kühne Logistics University zu den Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Lieferketten und Logistik vorige Woche in Hamburg.

Das große Thema bei Supply-Chain-Managern und Logistikdienstleistern ist derzeit die Resilienz von Lieferketten. Durch den Krieg in der Ukraine, die Corona-Pandemie, geopolitische Spannungen, Engpässe und nicht zuletzt den Klimawandel bleibt der Druck auf die Wertschöpfungsnetze von Industrie und Handel hoch. Mit einer raschen und dauerhaften Entspannung rechnen nur noch wenige. Dementsprechend muss die Störanfälligkeit von Lieferketten, soweit es geht, gesenkt werden. „Dabei geht es um eine kluge Diversifizierung von Lieferketten“, betont Claas-Mühlhäuser. „Denn Vielfalt schafft Versorgungssicherheit.“ Für die Unternehmen geht es nun also darum, neue Partner zu finden, beispielsweise für die Rohstoffbeschaffung. Die Globalisierung tritt in eine neue Phase.

Zentralasien bietet sich für Rohstoffpartnerschaften an. So hat der deutsche Außenhandel mit Kasachstan, Usbekistan, Armenien und Aserbaidschan seit Beginn des Krieges in der Ukraine nach Angaben des OA massiv zugelegt. „Diesen Ländern kommen wirtschaftlich zudem die wachsende Zahl gut ausgebildeter Flüchtlinge aus Russland und die Verlagerung ganzer Unternehmen zugute“, teilt der OA mit. Zudem spielen osteuropäische Länder künftig eine noch bedeutendere Rolle als in der Vergangenheit.

Bilateraler Handel wächst

Der OA hat 29 Partnerländer, der Außenhandel mit diesen Ländern ist Claas-Mühlhäuser zufolge insgesamt größer als mit China und den USA zusammen. In den ersten drei Quartalen 2022 sei der bilaterale Handel mit der Region trotz des Krieges erneut um 14 Prozent auf fast 421 Milliarden Euro gestiegen. Außerdem rückten Südosteuropa und der westliche Balkan näher an die EU heran. „Die Länder gewinnen als Standorte für deutsche Unternehmen an Bedeutung“, sagt Claas-Mühlhäuser. Und natürlich stehe in den kommenden Jahren auch der Wiederaufbau der Ukraine im Vordergrund.

Wolfgang Niedermark, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), sieht die Weltwirtschaft in einem grundlegenden Wandel. Statt Deglobalisierung braucht es eine Neuglobalisierung, wie er es nennt. „Die Entfesselung einiger Unternehmen, die tun konnten, was sie wollten, wird es künftig nicht mehr geben.“ Diese dominanten Tech-Unternehmen seien nun vielmehr im Blick starker Staaten, die in den Markt eingreifen und regulieren, wie sich an den USA deutlich zeige. „Die nächste Phase der Globalisierung wird nicht von Konvergenz und Zusammenarbeit geprägt sein, sondern es geht eher in Richtung einer konfrontativen Wettbewerbssituation bis hin zu kriegerischer Auseinandersetzung“, zeichnet Niedermark ein eher düsteres Bild.

In der EU drohe ein Übermaß an Regulierung, das die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen könnte. Außerdem sei bei der Neuglobalisierung zu berücksichtigen, dass die westlichen Staaten nicht in allen Teilen der Welt ihr Wertesystem umsetzen könnten. Für Unternehmen gehöre es mit zur Diversifizierung, „mit schwierigen Partnern im Geschäft zu bleiben und neue Partner zu finden“, sagt Niedermark. Zugleich sei es eine große Verantwortung, rote Linien zu definieren, die eine Zusammenarbeit unmöglich machen. „Dann muss man auch mal auf ein Geschäft verzichten.“

Ersatzlieferanten anpassen

Ein Unternehmen, das die Kriegsfolgen sehr deutlich zu spüren bekommen hat, sind die DAW Deutschen Amphibolin-Werke. Der Farben- und Lackhersteller hat seit Mitte der 90er Jahre in der Ukraine eine Produktionsstätte betrieben, die zeitweise geschlossen werden musste. Das Unternehmen hat mittlerweile auf Lieferanten aus Russland und Weißrussland verzichtet. Um die Produkte von Ersatzlieferanten einsetzen zu können, musste zunächst die Rezeptur angepasst werden, erklärt Andreas Kiesewetter, Head of Public Affairs Group Innovation.

Das Beispiel DAW zeigt, Lieferanten sind nicht immer uneingeschränkt austauschbar. Außer angemessenen Logistikkosten, Lieferzeiten und Mengenvereinbarungen müssen Produktspezifikationen und Qualitätsstandards bei der Lieferung aus alternativen Quellen sichergestellt sein. Das müssen Unternehmen grundsätzlich berücksichtigen, wenn sie beispielsweise im Zuge der Neugestaltung ihrer Wertschöpfungsnetze auf Nearshoring setzen.

In diesem Zusammenhang wird außer Osteuropa künftig auch Nordafrika wichtiger werden, sowie Portugal und vor allem die Türkei. So hat der Logistikdienstleister Kühne + Nagel in dem Land deutliche Zuwächse festgestellt. Aufgrund seiner Lage bietet die Türkei erhebliches Potenzial als Beschaffungsmarkt. Politisch gesehen dürfte es allerdings mitunter eher in die Kategorie schwieriger Partner fallen. Doch grundsätzlich gilt für Produktionsunternehmen: Je mehr Fertigungsstätten sie in unterschiedlichen Ländern haben, umso unabhängiger werden sie von einzelnen Beschaffungsmärkten.

Versorgungssicherheit kostet

Ob Nearshoring eine Strategie ist, um Lieferketten resilienter zu machen, ist allerdings nicht pauschal zu beantworten. Unternehmen wie der Flurförderzeughersteller Still fertigen seit jeher in Deutschland und unterhalten zugleich internationale Lieferketten. Die Fertigungstiefe an den Produktionsstandorten ist hoch. Dennoch ist Nearshoring ein Thema. „Wir prüfen, was wir noch inhouse machen können und was auch einige europäische Lieferanten nicht leisten können“, sagt Frank Müller, verantwortlich für Vertrieb und Service. Wichtiger Aspekt dabei sei der direkte Einfluss auf die Versorgungssicherheit. Die gebe es nicht unbedingt zu Nulltarif. „Man muss bereit sein, Konzessionen bei der Marge zu machen“, stellt Müller fest. Man werde weiter in Asien einkaufen und zugleich Standorte in Europa aufbauen.

Auch bei Philips war Nearshoring schon immer ein Thema. „Ganz kritische Komponenten werden inhouse produziert“, sagt Volker Eckert, Manager im Bereich Gesundheitssysteme. Dabei komme es darauf an, Logistikwege sicherzustellen, also gegen Störungen zu wappnen. See- und Luftfracht wolle man vermeiden. Nearshoring bedeutet für Philips, sich in Europa aufzustellen, wobei Versorgungssicherheit ein Balanceakt ist, wie Eckert betont. Single Sourcing laufe jedenfalls aus, das Unternehmen will auf mehrere Lieferanten zurückgreifen können. Um Partnerschaften zu festigen und die Versorgung zu sichern, sind Eckert zufolge Konsignationslager gut geeignet. Dabei unterhält ein Lieferant oder ein Kontraktlogistikdienstleister das Lager, das sich in der Nähe eines Produktionsstandorts befindet.

 

Außenhandel mit osteuropäischen Ländern von Januar bis September 2022

Störungen als Geschäftsrisiko

Global Sourcing ist ebenso wenig ein Selbstzweck wie Nearshoring oder Inhouse-Fertigung. Was Produktionsunternehmen künftig brauchen, zeichnet sich deutlich ab: kurze und resiliente Lieferketten. Zugleich gilt: „Nicht alles, was in Asien produziert wird, lässt sich nach Europa zurückholen“, unterstreicht Olaf Holzgrefe, Leiter der Internationalen Abteilung beim Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME). Unternehmen, die ihre Versorgung gewährleistet haben, könnten sich auch in einem schwierigen Marktumfeld besser durchsetzen. „Der Einkauf wird multidimensional“, sagt Holzgrefe. Mit den Chancen und Möglichkeiten in Osteuropa läge die Lösung für eine neue Globalisierung quasi vor der Tür.

Dass Unternehmen neue Perspektiven für ihre Wertschöpfungsnetze benötigen, zeigt eine in der vorigen Woche veröffentlichte Umfrage von Außenhandelskammern. Gut zwei Fünftel der deutschen Firmen im Ausland (42 Prozent) nennen weiterhin Supply-Chain-Störungen als erhebliches Geschäftsrisiko für die kommenden zwölf Monate. Dabei wird vor allem die chinesische Null-Covid-Politik als ein Risiko für globale Lieferketten gesehen. An den chinesischen Standorten sind es mit 58 Prozent und im Asien-Pazifik-Raum (ohne China) mit 50 Prozent jeweils überdurchschnittlich viele Unternehmen, die Risiken für ihre Wertschöpfungsnetze befürchten.

Besonders wichtig für globale Produktionsverbünde sind die Halbleiterlieferketten. Weltweit werden derzeit Produktionsstätten für Halbleiter auf- oder ausgebaut. Denn in Zukunft werden eher mehr denn weniger Chips und Elektronikkomponenten benötigt. Wie die Lieferketten für diese wichtigen Bauteile widerstandsfähiger gemacht werden können, beschreibt Deutsche Post DHL in einem Bericht mit dem Titel „Resilienz der Halbleiterlieferkette“. Entscheidende Aspekte dabei: beschleunigte Digitalisierung, intensivere Kooperation und Kollaboration, robuste Produkt- und Bestandsstrategien sowie Nachhaltigkeit.

Zudem können Logistikunternehmen „der Halbleiterindustrie bei der Koordination komplexer Abläufe wie einer parallelen Lieferung, Einrichtung und Wartung von Anlagen und Maschinen aus verschiedenen Quellen helfen“, heißt es in dem Bericht. So könnten Engpässe bei den Transportkapazitäten und der Versorgung mit Investitionsgütern in der Halbleiterlieferkette am besten gemeinsam mit Logistikanbietern verhindert werden. Durch Partnerschaften könnten weltweit integrierte und zentral gesteuerte Netzwerke entstehen, welche die Resilienz erhöhen.

Liquidität in der Lieferkette

Weiterer entscheidender Punkt ist eine robuste Produkt- und Bestandsstrategie. Dafür nennt der Bericht „zusätzliche Reservebestände, flexiblere Fulfillment-Netzwerke und einfachere Produktlinien in der Halbleiterlieferkette“. Die Rolle der Logistikanbieter liegt hierbei darin, zusätzliche Lagerkapazität, neue Standorte für die Lagerhaltung und Analysen von Bestandsdaten beizusteuern.

Ein anderer Ansatz, die Widerstandskraft von Lieferketten zu stärken, ist die Finanzierung. Damit befasste sich jüngst eine Veranstaltung der Technischen Universität München (TUM) am Campus Heilbronn. „Wir brauchen innovative Ansätze für eine maßgeschneiderte Resilienz, die so individuell sind, wie die Liefernetzwerke von Unternehmen“, betonte David Wuttke, Professor für Supply Chain Management an der TU München und Gastgeber der Veranstaltung. Unternehmen müssten ihre Lieferprozesse genau verstehen, die Flexibilität ihrer Netzwerke und die Grenzen der Flexibilität gut kennen, um Unvorhergesehenes besser managen zu können.

Das Ziel beim Supply Chain Finance (SCF) ist, Liquidität in der Lieferkette freizusetzen, indem einkaufende Unternehmen Zahlungsziele verlängern, Lieferanten aber trotzdem vorzeitig bezahlen. Die dafür notwendige Zwischenfinanzierung übernimmt ein Finanzierungspartner. Das erhöht die Bonität der Kunden der Lieferanten, die ihrerseits wiederum einen Zinsvorteil verbuchen können. Dieser finanzielle Vorteil stabilisiert nach Ansicht der Experten die Lieferbeziehungen, wie Douglas Schoch, Vice President Siemens Financial Services, bestätigt. „Lieferkettenfinanzierung ist ein Schlüssel für mehr Resilienz, den wir in die Praxis unseres Risikomanagements integriert haben.“ Supply Chain Finance unterstütze die Funktionsfähigkeit von Liefernetzen.

Damit Supply Chain Finance erfolgreich sein kann, müssen Lieferketten und ihre Finanzierung transparent sein und auf einem durchgängigen Informationsaustausch basieren. Für Rebecca Liao, Mitgründerin und CEO des IT-Service und Beratungsunternehmens Saga, ist die Blockchain eine sinnvolle Technologie, um Supply-Chain-Finance-Programme zu unterstützen. Die Vorteile lägen auf Hand, da sich in einer Blockchain die Material- und Finanzflüsse transparent und sicher abbilden lassen.

Firmen erhöhen Bestände

Neustrukturierung von Lieferketten und deren durchgehende Digitalisierung werden noch einige Zeit beanspruchen. Eine gängige Maßnahme für eine höhere Versorgungssicherheit sind Bestände. Aufgrund ihrer Kapitalbindung sind sie allerdings das Gegenteil von Liquidität und gehen zulasten der Produktivität. Produktionsausfälle wiegen allerdings wesentlich schwerer.

Daher hat die deutsche Industrie seit 2020 vor allem mit verstärkter Lagerhaltung auf die Störungen der internationalen Lieferketten reagiert. Das geht aus einer Umfrage des Ifo Instituts hervor. Demnach haben 68 Prozent der befragten Firmen ihre Lager vergrößert. 65 Prozent haben sich zusätzliche Lieferanten gesucht. 54 Prozent überwachen ihre Lieferketten jetzt besser als zuvor. „Die Unternehmen kämpfen an vielen Fronten, um Lieferkettenunterbrechungen zu vermeiden. Die Lieferketten sind komplexer und somit störanfälliger geworden. Kleine Brüche können häufig einen Produktionsausfall verursachen“, sagt Lisandra Flach, die Leiterin des Ifo Zentrums für Außenwirtschaft. Weitere 38 Prozent der Industriefirmen sortieren bestehende Lieferanten um. Nur 13 Prozent erhöhen ihre Fertigungstiefe, stellen also Zulieferteile jetzt selbst her.

Die Strategieansätze für resiliente Lieferketten im neuen Supply-Chain-Zeitalter sind vielfältig. Osteuropäische Länder bieten sich als Beschaffungsmärkte und Produktionsstandorte an, Zusammenarbeit und Partnerschaften zwischen OEM, Lieferanten und Dienstleistern stärken die Wertschöpfung, Finanzierungsinstrumente sichern Liquidität, und Bestände sind zwar kapitalintensiv, aber ein unverzichtbarer Rückhalt. Und die wichtigste Voraussetzung nicht nur für die Versorgungssicherheit, sondern das Wohlergehen aller Menschen ist: Frieden.

Mitarbeit: Amelie Bauer

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