Leben zwischen Hype und Scheitern

Kaum ein anderer Faktor spielt bei der Digitalisierung der Logistik eine so wichtige Rolle wie die Szene der Logistik-Start-ups. Sie können deutlich freier agieren als Organisationen und Unternehmen mit definierten Prozessen. Auch 2022 sind zahlreiche clevere Ansätze in die Tat umgesetzt worden.

Die Architektur der Griechen, in der Folge auch der Römer, richtete sich nach gewissen Regeln, die sich mehr und mehr zu speziellen Vorschriften verdichteten, ohne je verbindlich
fixiert worden zu sein. Der römische Architekt, Ingenieur und Architekturtheoretiker Vitruv schrieb im 1. Jahrhundert vor Christus zehn Bücher über Architektur, in denen er die drei
Hauptordnungen und einige Nebenordnungen
von Säulen unterschied. (Illustration: iStock)

Sie sind jung, sie sind kreativ, sie stehen auf dem Boden der Realität: Unzählige Start-ups schicken sich an, die Welt der Logistik zu digitalisieren. Einige, wie Sennder, mit großem Erfolg, andere hingegen tauchen wieder in die Versenkung ab, weil die Ideen zwar theoretisch funktionieren, aber den Sprung in die harte B2B-Welt nicht verkraftet haben. Doch definitiv gehört die lebendige Szene mit zu den wichtigsten Treibern für Logistikinnovationen. Das unterstreicht ein Blick auf das Jahr 2022.

Einer der wichtigsten Akteure im Umfeld der Logistik-Start-ups ist Startport, ein Ableger des Duisburger Hafens, der seit 2017 Gründern und Gründerinnen in den Sattel hilft. In diesem Jahr ist bereits der siebte Jahrgang eingezogen, wobei sich die Innovationsplattform mit ihrem Inkubator auf regional verwurzelte Jungunternehmen konzentriert hat. Mit an Bord ist in diesem Jahr zum Beispiel Katma Clean Control, ein aufstrebender Anbieter von automatisierten Reinigungs- und Desinfektionslösungen für Auflieger. Auch das Reifenmanagement-Start-up Co2opt hat mit seiner nachhaltigen, KI-basierten Lösung einen Platz gefunden, ebenso wie das Dispositions-Start-up Mansio, über dessen Software Speditionen lange Strecken in Teilstrecken zerlegen und diese regionalen Frachtführern zuweisen können.

Innovative Robot Delivery entwickelt – wie der Name sagt – eine Lösung für die vollautomatisierte Paketzustellung mithilfe von mobilen Paketausgabeeinheiten, und Cybrid will den Arbeitenden in Lagern und Logistikzentren das Leben mit körperunterstützenden Exoskeletten erleichtern. Und schließlich ist in diesem Jahr auch Logistikbude bei der Duis- port-Tochter angetreten. Die Idee: Eine webbasierte Soft- ware übernimmt das Ladungsträgermanagement unabhängig vom Ladungsträgertyp und regelt die Tauschprozesse in offenen Pools.

Doch natürlich konzentriert sich das Start-up-Geschehen nicht allein in Duisburg. Auch in Hamburg sind smarte Newcomer am Start: So räumte unlängst das Start-up Traceless Materials von Anne Lamp und Johanna Baare den Deutschen Gründerpreis in der Kategorie „Start-up“ ab. Die beiden Jungunternehmerinnen haben ein revolutionäres Verfahren entwickelt, mit dem sich Kunststoffgranulat, das normalerweise aus Erdöl besteht, durch ein gleichwertiges Bioprodukt aus Getreideresten ersetzen lässt. So lassen sich Folien erzeugen, die komplett biologisch abbaubar sind. Folien spielen als Verpackungsmaterial ja auch in der Logistik eine große Rolle.

In der Kategorie „Aufsteiger“ sicherte sich das Start-up Osapiens aus Mannheim die Auszeichnung. Dessen Gründer Alberto Zamora, Stefan Wawrzinek und Matthias Jungblut haben Software-Lösungen entwickelt, die nicht nur Informationen entlang der gesamten Wertschöpfungskette sammeln – vom Rohmaterial über das fertige Produkt bis zum Verkauf an den Endkunden, sondern auch über Ereignisse außerhalb des Produktionsprozesses. All diese Informationen und ihre durch KI gestützte Beurteilung helfen, die Prozesse entlang der Lieferketten nicht nur besser, sondern auch nachhaltiger, zeit- und kostensparender zu planen.

Möglicherweise könnte der Gründerpreis des nächsten Jahres an die Entwickler der Lunes-App des Augsburger Integrationsvereins „Tür an Tür“ gehen. Diese kostenlose Sprachlern-App wurde speziell für die Bedürfnisse von zugewanderten beziehungsweise ausländischen Logistikfachkräften konzipiert und vermittelt unter anderem wichtige Fachbegriffe für die Ausbildungsberufe „Fachkraft für Lagerlogistik“ sowie „Fachlagerist/in“. Anhand von Bildern können Auszubildende die Bedeutung, Aussprache und Schreibweise von relevanten Fachvokabeln trainieren.

Innovation kommt auch aus dem Ausland

Von Augsburg geht es nach Österreich: Das Start-up Heylog will mit einer neuen digitalen Lösung der Medienbruchproblematik, die beim Einsatz unterschiedlicher Kommunikationswege und -systeme entstehen kann, vorbeugen. Das soll durch den Einsatz von Messaging-Diensten wie Whatsapp, Facebook Messenger oder Viber gewährleistet werden, wobei die Kommunikation konform mit der Datenschutzgrundverordnung organisiert ist.

Nutzer von Heylog können in ihrer eigenen Sprache kommunizieren, das System sorgt für die Übersetzung. Damit soll die Sprachbarriere, die bisher eine hohe Hürde beim Einsatz von Lkw-Fahrern aus anderen Ländern war, zu einem großen Teil beseitigt werden. Ebenso wichtig ist, dass alle Beteiligten eine App nutzen, deren Funktionalitäten sie vom täglichen Gebrauch her kennen. Dieser Ansatz folgt der sogenannten „Bring your own device“-Philosophie. Ihr Kern ist es, dass die Mitarbeiter diejenige Technik verwenden, mit der sie bereits vertraut sind.

Doch nicht nur aus Österreich kommen frische Ideen, sondern beispielsweise auch aus Frankreich: So hat sich die im Jahr 2015 von Youness Lemrabet in Frankreich gegründete Visibility-Plattform Everysens zum Ziel gesetzt, die Prozesse innerhalb der „Blackbox“ Bahnlogistik transparent zu machen – auch in Deutschland. Ermöglichen soll das eine neue Art von Transport-Management-System für den intermodalen Verkehr, das Transport Visibility & Management System (TVMS). Mithilfe dieser Lösung lassen sich nicht nur die Abläufe entlang der logistischen Kette in der Bahnlogistik über alle Carrier hinweg übergreifend planen, sondern die Sendungen können auch in Echtzeit verfolgt werden.

Zurück nach Deutschland: Um Kommunikation geht es ebenfalls beim 2021 gegründeten Start-up Conroo, das von Markus Hartung und Felix Paul Czerny ins Leben gerufen wurde. Auf der Anwendung des Nürnberger Jungunternehmens melden sich die Fahrer im Terminal, auf den sie zulaufen, an und buchen ein Zeitfenster für ihr Handling. Mit der achtsprachigen App können sie außerdem Fracht- und andere Daten übermitteln. Die App kann in jedes Terminal Operating System (TOS) integriert werden und macht die häufig langwierigen analogen Anmeldeprozesse überflüssig. Stattdessen kann der Fahrer alle notwendigen Angaben über die App an den Terminal übertragen.

Für ein ebenso wichtiges Thema hat Aparkado ein Lösung gefunden: Das 2020 von Philipp Henn und Roland Moussavi gegründete Start-up hat sich zum Ziel gesetzt, das Parkplatzproblem der Lkw-Fahrer und -Fahrerinnen mit einem neuen Ansatz zu lösen. Über die App lassen sich nicht nur passende Parkplätze finden, sie dient auch als Bindeglied des Fahrpersonals untereinander. Es geht dabei um intelligente Routenführung, das Finden und Bewerten von geeigneten Lkw-Parkplätzen, den Austausch über die Situation an konkreten Rampen und die Weitergabe wertvoller Tipps.

Cargo Trouper, gegründet 2021, hat sich hingegen vorgenommen, Fuhrunternehmer im Kampf gegen den Personalmangel zu unterstützen. Die App-basierte Matching-Plattform will in erster Linie Bindeglied zwischen selbstständigen Fahrern, Fahrerinnen und Fuhrunternehmen sein. Dabei geht es aber nicht darum, innerhalb der ohnehin schon schrumpfenden Gruppe der professionellen Lkw-Fahrer Menschen von Firma A nach Firma B zu locken. Vielmehr will Cargo Trouper Menschen mit Lkw-Führerschein, die in ganz anderen Branchen tätig sind, als Freelancer-Fahrer mit Gewerbeschein für zeitlich begrenzte Einsätze vermitteln. Für Fahrpersonal ist die Plattform völlig kostenfrei. Cargo Trouper übernimmt die Vermittlung von Aufträgen, rechnet diese ab und versichert die Fahrer und Fahrerinnen.

So vielfältig wie die zumeist digitalen Lösungen sind auch die Gründenden selbst: Oft haben sie ihre Ideen bereits während des Studiums entwickelt. Doch natürlich sind auch risikobereite kluge Köpfe am Start, die aus der Praxis kommen und die aktuell noch vorhandenen Missstände und Ineffizienzen kennen. Beiden Gruppen ist aber eines gemein: Sie leben ihre Ideen und sind überzeugt davon, mit ihren Innovationen die Logistik der Zukunft besser machen zu können.

Säulen der Logistik

Säulen tragen Gebäude – oder dienen als Zierde. Was trägt eine Logistikleistung? Das richtige Produkt in der richtigen Qualität und richtigen Menge zur richtigen Zeit und zu den richtigen Kosten zum richtigen Ort zu bringen. Diese sechs Säulen der Logistik hat Reinhardt Jünemann, Maschinenbauingenieur sowie Gründer und bis 2000 Leiter des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund, in seinem gemeinsam mit Andreas Beyer (SAP) verfassten Buch „Steuerung von Materialfluß- und Logistiksystemen“ (1998, Springer-Verlag) als „6R der Logistik“ aufgeschrieben. Er hat die ursprünglich vier R um die richtige Menge und die richtigen Kosten ergänzt. Als Zierde lässt sich kein R abtun. Logistik-Start-ups müssen daher die sechs R weiterhin berücksichtigen und zum Teil deutlich erweitern, um mit ihrem Leistungsangebot erfolgreich zu sein: Gerade unter den Aspekten Digitalisierung und Nachhaltigkeit können beispielsweise die richtige Verpackung (passgenau und wiederverwertbar), das richtige Tracking (in Echtzeit), die richtige Kunden- und Logistikpartnerinformation (digital und weiterverwertbar) und die richtige Produktion der Transportleistung (gesetzeskonforme Arbeitsbedingungen, nachweisbarer und geringer CO₂-Abdruck etc.) zu den Säulen ihrer Leistung dazugehören.

Mehr Infos

Beratung und Geld für Logistik-Start-ups

Wer als Gründer eines Logistik-Start-ups Unterstützung sucht, findet beispielsweise bei diesen drei Stationen Rat:

  • Die Digital Hubs Logistics in Hamburg, Dortmund und München fördern und fordern seit 2017 Logistik-Start-ups in Deutschland. Allein in Hamburg sind mittlerweile über 60 Jungunternehmen in den Genuss der Unterstützung gekommen. Der Hub in Dortmund hingegen begleitet nicht nur Start-ups, sondern unterstützt mit seiner Start-in-Factory Unternehmen auch dabei, ihre digitale Transformation voranzutreiben. Das Münchner Digital Hub Mobility ist Teil der Unternehmer-TUM, Europas größtem Zentrum für Gründung und Innovation. Es konzentriert sich darauf, neuen Ideen und Konzepten für die Mobilität von morgen Raum für die Entwicklung zu geben. Im Netz: www.digitalhublogistics.hamburg; mobility.unternehmertum.de; digitalhublogistics.de 

  • Startport: Die Tochter des Duisburger Hafens wurde im Oktober 2017 gegründet und hat mittlerweile sechs Start-up-Jahrgänge begleitet. Die Innovationsplattform für Logistik und Supply Chain matcht Fragestellungen und Herausforderungen der Kooperationspartner (Corporates) mit den Lösungen der Start-ups in ihren Inkubator- und Accelerator-Programmen. Dabei geht es darum, Pilotprojekte zu initiieren. Seit 2022 konzentriert sich Startport auf die Unterstützung von jungen Unternehmen in Gründung. Die Programme laufen jeweils zwölf Monate lang.

  • Home of Logistics and Mobility (Holm): Das Holm ist ein interdisziplinär und branchenübergreifend arbeitendes Forschungs- und Bildungszentrum im Bereich Logistik und Mobilität mit Sitz in Frankfurt am Main. Hier kooperieren Hochschulen, Unternehmen und Institutionen der öffentlichen Hand. Dabei geht es natürlich auch um die Förderung von Start-ups in der Logistik.

Neue Datenbank bietet Überblick

Ob Geld oder Beratung, privat oder staatlich: Für potenzielle Unternehmerinnen und Unternehmer, die ein Start-up gründen wollen, gibt es diverse, sehr unterschiedliche Unterstützungsangebote. Doch bisher gab es oft nur Übersichten über Förderangebote aus bestimmten Bereichen, etwa auf Basis staatlicher Unterstützung. Eine neue Datendank, die an der Fakultät für Betriebswirtschaft der Universität Hamburg aufgebaut wurde, soll ab sofort einen umfassenden und transparenten Überblick liefern. Sie wird stetig ergänzt und verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der beispielsweise auch private Initiativen berücksichtigt. Filterfunktionen bieten gezielte Recherchemöglichkeiten. Unter anderem können die Art der Unterstützung – Geldförderung, administrative Angebote, Events oder Räumlichkeiten – und die Gründungsphase, in der sich Idee beziehungsweise Unternehmen aktuell befinden oder für die Rat gesucht wird, ausgewählt werden. Zum Start stellte das Projektteam bereits eine Datenbank mit mehr als 500 Fördermöglichkeiten zusammen. Hinzu kommen rund 100 sogenannte Events, zu denen auch Gründungs- und Businessplan-Wettbewerbe gehören.

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