Pharmalieferketten im Stresstest

Gestrichene Flüge, Produktionsstopps, starke Mengenschwankungen: Die Pharmaindustrie sowie der Großhandel und die Logistikdienstleister hatten in der Covid-19-Pandemie am Anfang des Jahres erheblich damit zu kämpfen, die Lieferketten und die Medikamentenversorgung aufrecht zu erhalten. Das zeigte die Sequenz „Pharmalogistik – Lessons Learned 2020“.

Screenshot: DVZ

Gestrichene Flüge, Produktionsstopps, starke Mengenschwankungen: Die Pharmaindustrie sowie der Großhandel und die Logistikdienstleister hatten in der Covid-19-Pandemie am Anfang des Jahres erheblich damit zu kämpfen, Lieferketten und die Medikamentenversorgung aufrechtzuerhalten. Das zeigt die Sequenz „Pharmalogistik – Lessons Learned 2020“.

Nach einer Umfrage der Frankfurt University of Applied Sciences unter 20 deutschen Pharmaherstellern haben 55 Prozent Auswirkungen von mehreren Wochen auf die Pharmalieferketten gespürt. Geringe Auswirkungen von lediglich mehreren Tagen gaben 36 Prozent der Befragten an, und kritische Folgen über mehrere Monate gab es bei 9 Prozent. Diese Zahlen nennt Ivonne Ziegler, Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Universität.

Pharmaprodukte haben Vorrang

Ziegler ordnet die Pandemie als die größte Krise mindestens der vergangenen drei Jahrzehnte ein. Als die Folgen in Europa Ende Februar/Anfang März spürbar wurden, gab es auf allen Verkehrsträgern massive Beeinträchtigungen. So stockte die Abfertigung in chinesischen Seehäfen, Aufträge im Seeverkehr wurden storniert, und die Abfertigung an innereuropäischen Grenzen verzögerte sich teilweise enorm. Vor allem aber die Flugverbindungen waren massiv gestört, da manche Länder kurzfristig die Grenzen geschlossen und Airlines Flüge von einem Tag auf den anderen annulliert haben.

„China hat 90 Prozent der Flüge storniert“, berichtet Thomas Panzer, verantwortlich für Supply Chain Management für Pharmazeutika bei Bayer in Berlin. „Die Pandemie-Situation ist ein Stresstest für unsere Supply Chain“, stellt er fest. „Die weiteraus größere Herausforderung war allerdings das unkoordinierte Handeln der Länder vor allem in den ersten vier bis acht Wochen der Krise.“ Das führte zu massiven Handelshürden, die nicht wieder auftreten dürften.

Die Organisation von Alternativrouten gestaltete sich Panzer zufolge sehr schwierig. Bei manchen Medikamentengruppen wie beispielsweise Krebsmittel, die in Kleinstmengen transportiert und in Deutschland nur gering bevorratet werden, kann das für die Patienten schwerwiegende Folgen haben. Bei solchen Medikamentengruppen änderten sich infolge der Engpässe auch die Verschreibungszyklen von monatlich zu quartalsweise. Bayer nutzte Alternativrouten über die USA nach Europa.

„Die Preise auf der Strecke Europa-China sind explodiert“, sagt Prof. Ziegler. Manche Strecken seien komplett abgeschnitten gewesen, und es habe keine Ausweichstrecken gegeben. „Die spontanen Entscheidungen in manchen Ländern, den Luftraum zu schließen, hatten dramatische Effekte auf die Pharmalieferketten.“ Prof. Ziegler plädiert daher für eine engere Zusammenarbeit der Regulierungsbehörden mit der Pharmabranche.

Da Transportkapazität durch gestrichene Passagierflüge wegfiel, verkehrten mehr Frachtmaschinen. Hersteller von Pharmaprodukten haben dabei zwei Vorteile. Zum einen werden Arzneimittel als Fracht bevorzugt, da es sich teilweise um lebenswichtige Produkte handelt. Zum anderen sind die Hersteller in der Lage, die geforderten hohen Preise für die Transportkapazität zu bezahlen. „Im Zweifel fällt daher bei einer Airline die Entscheidung für Pharma“, sagt Prof. Ziegler.

Abhängigkeit von Indien und China

Bei aktiven pharmazeutischen Wirkstoffen, kurz API, die mit weiteren Hilfsstoffen zum fertigen Medikament verarbeitet werden, besteht eine hohe Abhängigkeit von den Produktionsstandorten in Indien und China. So kommen laut Ziegler 61 Prozent der APIs für den europäischen Markt aus diesen Ländern. Im April ist das Produktionsvolumen in Indien aufgrund von Beschränkungen auf 50 bis 60 Prozent zurückgegangen, stieg dann wieder von Mai bis Juni auf 60 bis 80 Prozent. Eine wichtige Strategie könne es Ziegler zufolge sein, wenn Unternehmen die Produktion auf verschiedene Märkte und Ketten verteilen, um die Auswirkungen von Unterbrechungen zu begrenzen.

Panzer von Bayer glaubt nicht, dass eine stärkere Lokalisierung der Pharmabranche ratsam ist. Er spricht sich für balancierte und diversifizierte globale Netzwerke aus inklusive Back-up-Systemen mit klarer Segmentierung. „Lokalisierung führt zu kleinen Produktionsstätten, die nicht effizient produzieren können“, sagt Panzer. Die Kosten seien zu hoch. Zudem schränke lokale Produktion die Verfügbarkeit ein, da jedes Land dann nur für seinen Bedarf produziert und bei Engpässen in einer anderen Region somit nicht aushelfen könne. Qualitätseinbußen seien Panzer zufolge ebenso zu befürchten.

Krisenfeste Logistik

Arzneimittel sind mitunter lebenswichtige Güter, für die eine krisenfeste Logistik unabdingbar ist. Damit einher geht ein hohes Maß an Verantwortung für Logistikdienstleister wie Loxxess in München. Durch den Shutdown im März und den damit verbundenen Transportrückgang bei Konsumgütern hatte das Unternehnen kein ausgelastetes Netz mehr. „Wir haben dennoch jeden Tag 20.000 Apotheken und 3.000 Krankenhäuser mit Medikamenten versorgt“, berichtet Christina Thurner, Mitglied der Geschäftsleitung von Loxxess.

Wichtige Rolle bei der Auslieferung spielt das Sicherheitsprodukt Ident, das speziell für die Krankenhausbelieferung entwickelt wurde. Oft müssen Produkte am selben Tag für eine Operation zugestellt werden. An manchen Kliniken gibt es viele Abladestellen, am Klinikum rechts der Isar in München beispielsweise sind es über 80. „Wenn ein Medikament an einer falschen Abladestelle angeliefert wird, findet die OP an diesem Tag sehr wahrscheinlich nicht statt“, sagt Thurner. „Das kostet schlimmstenfalls ein Menschenleben. Über die Ident-App wird ein Barcode an den Empfänger versendet. Das Paket wird an die Person übergeben, die diesen Barcode hat.

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