Ein Jahr der Ungewissheit für die Logistik

Geopolitische Spannungen werden auch 2024 die Wirtschaftsentwicklung beeinflussen. Michael Müller, Gründer und Geschäftsführer von Müller – Die lila Logistik, sagt, worauf es jetzt ankommt.

Die Konsumzurückhaltung wird 2024 voraussichtlich weiter anhalten. Foto: deberarr/iStock

Michael Müller weiß, wie wichtig es ist, eine Unternehmenskultur zu haben und zu pflegen, mit der sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter identifizieren. Dazu kann er eine Anekdote aus den 90er Jahren erzählen. Ein paar Jahre nach der Gründung von Müller – Die lila Logistik war er zu Besuch bei Hewlett Packard in Böblingen, einem Kunden des damaligen Start-ups. Schon am Empfang spürt Müller eine Stimmung wie auf einer Trauerfreier. Die Tradition, das morgendliche Brötchen mit Kaffee, das bis dahin jeder um 9 Uhr persönlich von der Frau des Firmengründers bekam, wurde gestrichen – eine Sparmaßnahme. Für die Mitarbeitenden wäre scheinbar eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit oder eine Gehaltskürzung leichter zu verkraften gewesen, aber kein Frühstücksbrötchen mehr? Das war ein Kulturbruch.

Zur Unternehmenskultur von Müller gehört die Farbe Lila. Ob Arbeitskleidung, Gabelstapler, Teppiche oder Geschirr – Lila setzt an vielen Stellen optische Akzente. „Das gehört zur Markenbildung, sorgt für Wiedererkennung und ist für die Mitarbeiter ein wichtiges Identitätsmerkmal“, ist Müller überzeugt, der froh ist, „schon früh viel von den Kunden gelernt zu haben“, wie er sagt. Mit 25 Jahren gründete er 1991 die Firma in Stuttgart. Mit ihm waren es damals 5 Mitarbeiter. Heute beschäftigt das Unternehmen etwa 2.500 Mitarbeiter und verfügt über 23 Logistikzentren in der Größenordnung von 20.000 bis 90.000 Quadratmeter.

„Das erste Halbjahr wird sicher für alle schwierig, weil die Verunsicherung groß ist“, meint Michael Müller, CEO Müller - Die lila Logistik. Foto: Oliver Streich

Müller – Die lila Logistik ist unter anderem in den Branchen Automotive, Elektronik, Medizintechnik und Konsumgüter sowie E-Commerce und Fulfillment breit aufgestellt und geht gleichzeitig vertikal tief in die Wertschöpfung. So übernimmt der Dienstleister beispielsweise Vormontagetätigkeiten für Automobilhersteller oder steuert Modullieferanten. Charakteristisch sind langfristige Geschäftsbeziehungen. Mit einigen Kunden bestehen sie bereits seit 25 Jahren, viele halten 10 Jahre und länger.

Deshalb investiert Müller im Rahmen solcher engen Partnerschaften auch in Produktionsanlagen, wie zum Beispiel für einen französischen Automobilkonzern, für den der Dienstleister Hinterachsen fertigt. In der Medizintechnik wird in spezielle Lagertechnik für elektronische Bauteile wie Prozessoren investiert. Damit diese nicht altern, wird der Luft der Sauerstoff entzogen und die Temperatur auf minus 180 Grad gesenkt.

Kaum Entspannung in Sicht

Es sind solche Lösungen und Weiterentwicklungen, die den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens über Jahre sichern. Aktuell steht die Logistikwirtschaft vor einem schwer einzuschätzenden Jahr. Waren die vergangenen Jahre bereits von multiplen Krisen geprägt, unter denen gerade auch Kontraktlogistik-Dienstleister zu leiden hatten, so zeichnet sich derzeit kaum Entspannung ab.

Wie geht ein Unternehmenslenker wie Michael Müller damit um? „Die Welt hat sich völlig verändert. Langfristige Verträge allein sind heute nicht mehr zwingend das erklärte Ziel. Die Verträge müssen Chancen und Risiken gleichermaßen abbilden.“ Zudem seien die Banken bei der Vergabe von Investitionskapital sehr restriktiv.

Für das kommende Jahr rechnet Müller in allen Branchen mit einem eher verhaltenen Geschäft. „Generell werden wir im Konsumbereich zwischen 5 und 10 Prozent weniger Volumen sehen.“ Einige Luxussegmente würden noch laufen, aber dort seien die Mengen ohnehin gering. „Das erste Halbjahr wird sicher für alle schwierig, weil die Verunsicherung groß ist.“

Ein Grund dafür sind die Ende 2024 anstehenden Wahlen in den USA, von denen unterschiedliche Impulse ausgehen können. Die Befürchtung, dass die USA die Unterstützung für die Ukraine kürzen werden, sorgt bereits heute für große Verunsicherung in Europa. Müller ist überzeugt, dann stünde langfristig die Stabilität Europas auf dem Spiel.

Auch die Spannungen zwischen China und Taiwan und die mögliche Blockbildung zwischen China und Russland sieht Müller als problematisch an. Die deutsche Wirtschaft habe sich über Jahrzehnte in vielen Bereichen in eine totale Abhängigkeit von China und Russland begeben. Positiv sei immerhin, „dass sich die USA und China in letzter Zeit wieder etwas angenähert haben. Solange man redet, wird nicht geschossen.“ All diese geopolitischen Spannungen wie auch der aktuelle Nahostkonflikt hätten indirekt Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung, da sie Unternehmen und Konsumenten gleichermaßen verunsicherten.

Müller beobachtet, dass Kunden nach Zweit- und Drittlieferanten suchen, um Abhängigkeiten zu reduzieren. Dies gelte vor allem für Lieferanten aus dem asiatisch-pazifischen Raum. Gleichzeitig wird ein Teil der Wertschöpfung zurückverlagert. Dabei spielt Osteuropa eine wichtige Rolle. „In Osteuropa wird sich die Wertschöpfung stärker entwickeln – vor allem in Bereichen, in denen es noch viele personalintensive Tätigkeiten gibt“, erwartet Müller. Das Sourcing von Komponenten werde dagegen sehr global bleiben.

In Deutschland werde es in der Automobilindustrie eher darum gehen, die Variantenentstehung möglichst nahe an die Produktion heranzuführen. Wenn beispielsweise mehrere Modelle auf einer Produktionslinie gebaut werden sollen, stelle dies besondere Anforderungen an die Logistik.

Auch in der Kontraktlogistik sei es wichtig, dem Kunden zu mehr Flexibilität zu verhelfen und Volatilitäten auszugleichen. „Interkontinentale Just-in-Time-Verkehre wird es nicht mehr geben, das muss man entkoppeln. Aber die regionale Produktionsversorgung wird weiterhin Just-in-Sequence und Just-in-Time steuerbar sein“, ist er überzeugt. Allerdings werde es wieder mehr direkte Lagerhaltung geben. Denn nicht immer lässt sich im Umkreis von 20 Kilometern um eine Produktionsstätte ein externes Lager errichten, die Flächen dafür sind nicht vorhanden.

Daher benötigen die Hersteller zunehmend Pufferbestände, um die Produktionssicherheit zu gewährleisten. Für Müller wäre es sinnvoll, wenn zum Beispiel ein Autohersteller die Teile vorrätig hätte, mit denen jederzeit ein Auto mit einer Standardausstattung produziert werden kann. Engpässe würden dann weniger Produktionsausfälle verursachen. Bei Elektroherstellern beobachtet er, dass die Zahl der Varianten oder Modelle in bestimmten Produktkategorien deutlich zurückgeht: „Waschmaschinenhersteller produzieren nicht mehr 120 verschiedene Typen, sondern vielleicht noch 40.“

Alle Risiken und Unwägbarkeiten, die sich aus den geopolitischen Spannungen ergeben, sind für das Management des Dienstleisters nicht kalkulierbar und können nicht in die wirtschaftliche Entwicklung einbezogen werden. Für Müller sind deshalb „Information, Kommunikation und Transparenz“ in der internen Führung ganz entscheidend. „Die Mitarbeiter müssen immer wissen, wo das Unternehmen steht, was gut und was schlecht läuft“, betont der 57-Jährige. Neben dieser Transparenz müsse auch die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen gegeben sein. Es sind diese klassischen Unternehmenswerte, die gerade im kommenden Jahr über den Erfolg entscheiden werden.

Auch mal aussteigen

Darüber hinaus ist für Müller klar, dass weiterhin voll in Automatisierung und Digitalisierung investiert wird, da dies die Basis für den weiteren Entwicklungsprozess sei. Man habe sich auch von Geschäften getrennt, die 5 Prozent des Umsatzes ausmachten, aber als nicht zukunftsfähig identifiziert wurden – auch wenn sie derzeit noch einen Deckungsbeitrag lieferten.

Kontraktlogistikanbieter haben in den vergangenen Monaten intensiv mit den Auftraggebern über die Preise verhandelt. „Viele Dienstleister steigen aus dem Geschäft aus, wenn es sich nicht rechnet“, berichtet Müller. Es gebe derzeit nur wenige Auftragswechsel. „Manche Auftraggeber haben sogar Schwierigkeiten, neue Dienstleister zu finden, vor allem wenn sie keine Mengenzusagen machen wollen, keine Investitionssicherheit geben und volle Kostenvariabilität fordern.“ Auftragnehmer, die sich darauf noch einließen, würden in kurzer Zeit vom Markt verschwinden.

Der Unternehmenslenker blickt schon heute über das Jahr 2024 hinaus. „Wir wissen aufgrund des Transformationsprozesses und der Themen, die wir angestoßen haben, dass wir 2025, 2026 eigentlich gute Jahre haben müssen“, gibt er sich zuversichtlich. Dahinter stehen vor allem Neugeschäft und höhere Volumina sowie Vorteile durch Digitalisierung und Automatisierung.

Diese erhofften guten Jahre wird die neue Generation bei Müller – Die lila Logistik managen. Das Direktorium um Michael Müller hat die Verantwortung sukzessive an die zweite Führungsebene übergeben. Für sie wird es kein leichtes Jahr 2024. Vielleicht macht Müllers Maxime Mut: „Es kommt nie so gut, wie man es sich wünscht, aber nie so schlimm, wie man es befürchtet.“ Und eines ist klar: Einen Kulturbruch wird es nicht geben, die Farbe Lila bleibt.

Ottmarsheim

Der Ort liegt in Baden-Württemberg knapp 40 Kilometer nördlich von Stuttgart und gehört zu Besigheim. Es ist eine kleine Gemeinde mit rund 2.500 Einwohnern. Östlich verläuft die Autobahn 81. In Ottmarsheim sind neben Müller – Die lila Logistik SE einige Industrieunternehmen angesiedelt wie der Energieausrüster Lilie, LQ Mechatronik-Systeme und die Autopolsterei Lear Corporation.

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