Pro und Kontra zum Verkehrsstreik: Müssen die Gewerkschaften mehr Rücksicht nehmen?

DVZ-Chefredakteur Sebastian Reimann meint, dass die Gewerkschaften im Interesse ihrer Mitglieder mit Arbeitsniederlegungen sehr bedächtig umgehen sollten. Für DVZ-Redakteur Oliver Link ist der Streit um das Für und Wider des Warnstreiks vom Montag ein Lehrstück einer postfaktischen Debatte.

Die beiden Gewerkschaften EVG und Verdi hatten ihre Schlagkraft am Montag verstärkt, indem sie ihre Tarifkonflikte in einem Verkehrsstreik verknüpften. Die EVG bestreikte den Fern-, Regional- und S-Bahn-Verkehr. Verdi sorgte derweil für Stillstand an mehreren Flughäfen, im Nahverkehr und auch auf Wasserstraßen. Müssen die Gewerkschaften im Tarifkonflikt mehr Rücksicht auf den Wirtschafts- und Logistikstandort Deutschland nehmen? Darüber gehen die Meinungen in der DVZ-Redaktion auseinander.

Pro

DVZ-Chefredakteur Sebastian Reimann

Bevölkerung und Betriebe sind an diesem Streik-Montag mit einem blauen Auge davongekommen. Das befürchtete Verkehrschaos blieb aus – vor allem weil viele Arbeitnehmer einfach im Homeoffice blieben. Also alles halb so wild? Keineswegs, denn der Reputationsschaden für den Wirtschafts- und Logistikstandort Deutschland wirkt länger nach, als es dauert, die Trillerpfeifen wegzustecken und die Transparente einzurollen.

Die jüngste Arbeitsniederlegung reiht sich ein in eine ganze Reihe von Streiks, die den deutschen Verkehrssektor in den vergangenen Monaten betroffen haben. Erst die Hafenarbeiter im vergangenen Sommer, dann die Streikandrohung der Beschäftigten bei der Deutschen Post und schließlich vergangene Woche die Warnstreiks bei der Hamburger Hafenverwaltung – es entsteht der Eindruck, dass in diesem Frühjahr öfter nicht gearbeitet als gearbeitet wird.

Dieses Bild legt sich über das eines Landes, dessen Ruf in den vergangenen Jahren eh gelitten hat. Denn zugleich kämpft Deutschland mit einer maroden Infrastruktur, endlosen Planungsverfahren und im internationalen Vergleich besonders hohen (Energie-)Kosten. Und nun geht auch noch der USP einer vergleichsweise konsensorientierten Tarifpartnerschaft verloren?

Aus Sicht der Wirtschaft kann dies das Fass zum Überlaufen bringen und sie dazu bewegen, dem Wirtschafts- und Logistikstandort den Rücken zu kehren. Bei einer aktuellen Deloitte-Umfrage gaben bereits 56 Prozent der Industrieunternehmen an, lieber in Nordamerika als hierzulande zu investieren. 46 Prozent ziehen Osteuropa vor.

Damit wäre auch den Arbeitnehmern nicht geholfen, die aktuell um ihr Auskommen kämpfen. Denn erst muss etwas erwirtschaftet werden, bevor etwas verteilt werden kann.

Hinzu kommt: Hohe Tarifabschlüsse mögen all jenen nutzen, die in ihren Genuss kommen. Volkswirtschaftlich sind damit aber auch Risiken verbunden – Stichwort Lohn-Preis-Spirale. Zudem werden Automatisierung und Digitalisierung in dem Maße attraktiver als sich die menschliche Arbeitskraft verteuert.

Kontra

DVZ-Redakteur Oliver Link

Kaum eine Debatte der jüngeren Vergangenheit ist hierzulande ihrem Anlass weniger gerecht geworden als die um diesen Warnstreik. So führte die eintägige Arbeitsniederlegung etwa, anders als dies im Vorhinein überall behauptet worden war, zu vernachlässigbaren wirtschaftlichen Schäden. Dies war schon vor dem Streiktag bekannt: Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer bezifferte die durch den Warnstreik entstehenden Kosten auf 0,006 Prozent der jährlichen Wertschöpfung.

Doch das passte scheinbar nicht zu der Botschaft mancher Marktteilnehmer, die von „erheblichen betriebs- und volkswirtschaftlichen Schäden“ zu berichten wussten, während andere es offenbar darauf anlegten, den Menschen Angst machen zu wollen mit Botschaften auf dem Medien-Boulvard wie „Brummi-Fahrer warnen: Versorgungs-Chaos in Supermärkten!“

Dabei hatte der überwiegende Teil der Deutschen, der von dem hysterischen Geschrei übertönt wurde, indes Verständnis für die Arbeitsniederlegungen; nur 7 Prozent waren als Fernreisende mit der Bahn sowie 2 Prozent als Flugreisende davon überhaupt betroffen, und das Arbeitskampfrecht kann schon allein deswegen nicht „auf den Prüfstand“ gestellt werden, wie dies manche forderten, weil es in Deutschland schlicht kein gesetzliches Arbeitskampfrecht gibt. Das Streikrecht ergibt sich vielmehr aus der grundrechtlich verbrieften Koalitionsfreiheit, deren Ausgestaltung über das Richterrecht erfolgt.

Dass den Streikenden angesichts hoher Inflation kräftige Lohnsteigerungen zustehen, ist kein irrationaler Akt der Milde, sondern das Ergebnis kühler ökonomischer Logik in einem Land, in dem mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts auf privaten Konsumausgaben basiert.

Und wer sich dazu noch ein bisschen Moral und Entrüstung wünscht: Laut einem Medienbericht hat der Konzernvorstand der Deutschen Bahn Ende 2022 – sehr geräuschlos – die Grundgehälter für die rund 3.000 Manager des sogenannten oberen Führungskreises (OFK) um bis zu 14 Prozent angehoben.

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