Innovationsschub in Sicht

Schwimmer, Freizeitkapitäne, Untiefen, Schleusen, Anlegen, Rechtsfragen und neu zu entwickelnde Technologien: Autonom fahrende Binnenschiffe sind nicht viel einfacher in Fahrt zu bringen als selbstfahrende Straßenfahrzeuge.

Foto: CreativeNature_nl/istock

Die erste Stufe auf dem Weg hin zu selbstständig fahrenden Binnenschiffen ist erreicht: Diverse Systeme können der Schiffsführung bereits assistieren. Dazu gehören Navigationshilfen, Bahnregler und Unterstützung beim Passieren von Brücken und Engstellen sowie beim An- und Ablegen. Voraussetzung sind die möglichst hochgenaue satellitenbasierte Positionsbestimmung der Schiffe und die Erkennung der Umgebung, etwa mittels Kameras, Lidar oder Radar, verbunden mit digitalen, dynamischen Wasserstraßenkarten, die Wasserstand, Strömung und Wetter einbeziehen.

Autonomes Fahren ist auch in der Binnenschifffahrt der letzte von mehreren Entwicklungsschritten: Auf das assistierte Fahren folgen zunächst unterschiedliche Automatisierungsstufen. Vor jedem Schritt ist der jeweilige Rechtsrahmen festzulegen und die Kommunikation zwischen konventionell gesteuerten und anderen Einheiten zu klären, um Missverständnisse zu vermeiden.

Die Forschung konzentriert sich in Deutschland auf zwei reale Test-Standorte: Einer davon ist der Abschnitt des Dortmund-Ems-Kanals zwischen dem Hafen Dortmund und der Schleuse Waltrop. Hier engagieren sich das Duisburger Entwicklungszentrum für Schiffstechnik und Transportsysteme (DST), die Universität Duisburg-Essen (UDE), die RWTH Aachen und die Niederrheinische Industrie- und Handelskammer. Der zweite Test findet auf der Spree-Oder-Wasserstraße (SOW) in Brandenburg zwischen den Häfen Königs Wusterhausen und Eisenhüttenstadt statt. Hier forschen das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), die genannten Häfen, die Alberding GmbH, der Bundesverband Öffentlicher Binnenhäfen (BÖB) und einige Partner. Ein weiteres Projekt im Berliner Westhafen hat Anschluss an die SOW.

Die in die Projekte involvierten Wissenschaftler stehen zwar in Konkurrenz um Forschungsgelder, doch sie tauschen sich untereinander projektübergreifend aus. Zudem arbeiten sie auf manchen Gebieten wie der Identifikation juristischer Fragestellungen und ihrer Beantwortung eng zusammen.

Stand der Forschungen

Eine technische Lösung, die schon weit fortgeschritten ist, ist das Platooning mit dem System Vessel Train. Mit Hilfe des Argo Track Pilot ist dabei die automatische Bahnführung von Binnenschiffen entlang vorgegebener Leitlinien möglich. Zudem unterstützen Assistenzsysteme das verbrauchsoptimierte Fahren. Noch in diesem Jahr soll eine weitere Lösung in der Praxis erprobt werden: das Schleusenassistenzsystems „SciPPPer“, mit dessen Hilfe Schiffe autonom in Schleusen ein- und ausfahren können. Aktuell wird damit unter anderem in den Projekten „IW-Net“, „Autonom SOW II“, „VeLABi“, „FernBin“ und „AutoBin“ gearbeitet.

Beim von der EU finanzierten Projekt „IW-NET“ (Innovation-driven Collaborative European Inland Waterways Transport Network) entwickeln und erproben 26 internationale Partner – darunter auch die des Testfelds SOW – weitere Assistenzsysteme unter Nutzung von neuesten Diensten des Satellitennavigationssystems Galileo. Als Teil davon werden entlang der SOW spezielle lokale Stationen aufgebaut, welche die Satellitensignale und ihre Servicequalität überwachen und bei Ausfall warnen sollen, erläutert Ralf Ziebold, Gruppenleiter nautische Systeme am Institut für Kommunikation und Navigation des DLR. Das DLR entwickelt zudem im Rahmen des Projekts „Autonom SOW II“ eine Informationsplattform auf der Basis von Wasserstraßen-, Verkehrs- und Transportprozessdaten für planbare und vernetzte Transportvorgänge auf Binnenwasserstraßen. Diese Plattform soll bereits vorhandene und aktuell noch fehlende Daten zusammenführen und nutzbar machen für die automati­sche Generierung transport­relevanter Informationen. Partner ist dabei unter anderem die TU Berlin.

Laut Ziebold sind automatisiert fahrende Schiffe in den nächsten Jahren auf gesicherten Kanalabschnitten bereits möglich: „Voraussetzung ist, dass zunächst im Notfall die Steuerung an Bord noch manuell übernommen werden kann und in einem weiteren Schritt dann via Fernsteuerung von Land aus möglich ist.“

Ein Schwerpunkt der Arbeit in Duisburg ist die ferngesteuerte Schiffsführung zur permanenten Kontrolle aller Handlungsabläufe und eventueller Notfallsituationen. Hier ist im Oktober 2020 das Versuchs- und Leitungszentrum Autonome Binnenschiffe „VeLABi“ eröffnet worden. Es verfügt über einen Steuerstand mit einem 3D-360°-Schiffsführungssimulator, der Schnittstellen zu einem realen Testschiff hat, das eine Reederei den Forschenden zur Nutzung zwischen Transporteinsätzen zur Verfügung stellt. Die Wissenschaftler legen zudem einen digitalen Zwilling des Schiffs für Systementwicklungen, Simulationen und Trainings von Schiffsführern an. Im Projekt „FernBin“ (Ferngesteuertes, koordiniertes Fahren in der Binnenschifffahrt) hingegen werden Parameter für eine geeignete Infrastruktur festgelegt und Assistenzsysteme für die ferngesteuerte Schiffsführung entwickelt. Im Leitungszentrum laufen dafür alle Daten zu Verkehrsteilnehmern, Wasserstraßenverhältnissen, Störungen und mehr zusammen. Jan Oberhagemann aus dem Fachbereich Autonomes Fahren am Entwicklungszentrum für Schiffstechnik und Transportsysteme (DST) zum Ziel des Projekts: „Bis zum Projektende im Dezember 2022 wollen wir eine komplette Tagesfahrt vollständig von Land aus steuern und ohne Eingriffe von Bord aus sämtliche Manöver fahren.“

Oberhagemann ist zuversichtlich, dass dies gelingt. Die Bausteine seien entwickelt, nur ihre Kombination sei neu. Das Projekt „AutoBin“ (Autonomes Binnenschiff – Simulation und Demonstration von automatisiertem Fahren in der Binnenschifffahrt) schließlich hat bereits die vollständig automatisierte Kanalfahrt im Blick, bei der Start und Ziel eingegeben werden und dann das Schiff selbstständig die Fahrt übernimmt.

Großes Interesse der Branche

Die Bereitschaft der Reedereien, Schiffe für Tests zur Verfügung zu stellen, ist laut Ziebold hoch. Die Technik ließe sich im Prinzip bei vielen Schiffen nachrüsten, Neubauten sind nicht erforderlich. Auch Oberhagemann berichtet von breiter Unterstützung und großem Interesse aus der Praxis, die sich einen Innovationsschub erhoffe: hin zu optimierten Fahrten und Arbeitsabläufen sowie attraktiveren Berufsbildern. Qualifizierte Schiffsführer könnten mehrere statt nur ein Schiff überwachen und dies von einem permanenten Standort an Land aus. Der bisherige Platz an Bord für die Mannschaft könnte anders genutzt werden. Das Risiko von Unfällen, die in der Regel auf menschliches Versagen zurückzuführen sind, wird durch ausgereifte technische Systeme gesenkt. „In zehn Jahren wird die Brücke wahrscheinlich bereits für Stunden unbesetzt sein können“, meint Oberhagemann. „Komplett ohne Besatzung wird es aber noch lange nicht gehen.“

Ziebold ist überzeugt, dass autonom fahrende Binnenschiffe auch eine wirtschaftliche Lösung sein können: „Wenn die Politik will, dann kann sie die Rahmendbedingungen entsprechend setzen.“ Oberhagemann ist sich sicher, dass sich die Anfangsinvestitionen in neue Technik an Bord im Laufe der langen Schiffsleben amortisieren werden. „Doch um alle Vorteile ausspielen zu können, muss der Verkehrsträger stärker in logistische Konzepte eingebunden werden.“ (ben)

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