Lieferketten sind gasabhängig

Die industrielle Produktion und die Prozessindustrie sind auf ausreichend Gas angewiesen. Bei Ausfällen drohen weitreichende Störungen der Lieferketten. In einigen Bereichen wären die Folgen besonders gravierend.

Seit voriger Woche ist Gas ein knappes Gut. Russland reduziert die Gaslieferungen nach Deutschland. Folglich muss auf dem Weltmarkt mehr Flüssiggas beschafft werden. Dieses wird über LNG-Terminals in Belgien und den Niederlanden in das europäische Pipelinenetz eingespeist. Seit Mitte April waren die Bestände nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz bereits auf 35 Prozent gesunken. Deutschland hat einen jährlichen Gasbedarf von rund 95 Mrd. m³. Die russischen Gaslieferungen machen somit vor der Reduzierung der Mengen durch die Nord-Stream-Pipeline etwas mehr als 30 Mrd. m³ aus, rechnet der Branchenverband der deutschen Gaswirtschaft (Zukunft Gas).

Vor allem die Industrie ist auf die Gaslieferungen angewiesen. Engpässe oder gar Ausfälle in der Produktion oder der Prozessindustrie hätten weitreichende Folgen für die damit in Verbindung stehenden Wertschöpfungsnetze und Lieferketten. Die größte Menge benötigt die Industrie, Gas ist der wichtigste Energieträger, wie aus Zahlen des Bundesverbands der Energie und Wasserwirtschaft hervorgeht.

Wärme, Strom und Rohstoff

In der Chemieindustrie wird 54 Prozent des Gases für die Erzeugung von Prozesswärme benötigt. Ein Fünftel dient der Eigenstromerzeugung und zu 11 Prozent wird es als Rohstoff für die Herstellung von Stoffen genutzt. Der restliche Anteil verteilt sich auf Erzeugung von Raumwärme, mechanischer Energie, Warmwasser und Sonstiges. Diese Angaben macht Zukunft Gas und führt zugleich in einem Faktenblatt aus: „Viele der gasbasierten Prozessschritte sind elementare Bestandteile der deutschen Kernindustrien Fahrzeugbau und Chemie und damit ein wesentlicher Bestandteil internationaler Lieferketten.“

Der Verband nennt einige Beispiele:

  • Hochtemperaturprozesse mit bis zu 1.650 Grad Celsius in der Glas- und Keramikindustrie benötigen konstant viel Gas. Ein Ausfall würde zu Kaskadeneffekten führen. Lieferketten der Automobil-, Bau-, Lebensmittel-, Getränke-, Pharma- und Medizinindustrie wären auf längere Zeit unterbrochen.
  • In Industrieöfen für formgebende Stahlbleche oder zur Lacktrocknung kommt Erdgas in der Automobilindustrie zum Einsatz. Ohne gesicherte Versorgung würden die Produktionsbänder stillstehen.
  • Produktionsengpässen in der Landwirtschaft wären die Folge, wenn die Ammoniakherstellung in der chemischen Industrie ausfallen würde, für die Erdgas der Grundstoff ist. Ammoniak wird für die Düngemittelproduktion benötigt.
  • In der Nahrungsmittelindustrie treibt Erdgas beispielsweise Getreide- und Ölmühlen an oder es wird zum Kühlen in Molkereien verwendet. Ohne Gas wäre die deutsche Lebensmittelproduktion eingeschränkt – und somit auch die Versorgung mit bestimmten Sortimenten nicht gesichert.
  • Erdgas wird auch genutzt, um Prozessdampf zu erzeugen, beispielsweise in den deutschen Raffinerien. Ohne Gas käme es zu einer Mangellage von Diesel und Benzin. Die Preise für Treibstoffe würden weiter steigen. Auch dies hätte direkte Auswirkungen auf die Transportbranche und weitere Lieferketten.
  • Ohne Erdgas könnte es bei Papier, Verpackungsprodukten und Druckerzeugnissen zu Engpässen können. Denn die Zellstoff- und Papierindustrie verwendet Erdgas unter anderem für die Trocknung von Papierbahnen.
  • Selbst dort, wo Alternativen zum Gas zur Verfügung stehen – wie in der Kalkindustrie, wo Erdgas durch Braunkohle ersetzt werden könnte – bedarf es entsprechender behördlicher Genehmigungen. Zusätzlich müssten technische Umrüstungen wie Brenneranpassungen und Logistikanpassungen erfolgen, schreibt der Branchenverband in seinem Faktenblatt.

Die Versorgung mit Gas ist folglich für die Gesamtwirtschaft systemrelevant. „Das Ausrufen der zweiten Stufe des Notfallplans Gas, der Alarmstufe, durch Bundesminister Robert Habeck ist richtig, da sich die Lage der Gasversorgung in Deutschland für den kommenden Winter unter den aktuellen Rahmenbedingungen zu verschlechtern droht“, sagt Prof. Gerald Linke, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches. „Die von der Bundesnetzagentur vorgelegten Simulationen führen zu der Erkenntnis, dass bei reduziertem Lastfluss über die Pipeline Nord Stream 1 auf heutigem Niveau über den gesamten Sommer oder einem Totalausfall die gesetzlich vorgeschriebenen Speicherfüllstände nicht erreicht werden können und es zu einer Unterversorgung zur Mitte des Gaswirtschaftsjahrs 2022/2023 kommen kann.“

Ausbau der LNG-Infrastruktur

Die deutschen Gasspeicher sind derzeit zu 54 Prozent gefüllt, 90 Prozent sind das Ziel. Um dies zu erreichen, muss mehr Flüssiggas eingekauft werden. Aktuell sind vier temporäre, schwimmende LNG-Terminals geplant (FSRU). Diese haben jeweils mindestens eine Kapazität von 5 Mrd. m³ – also insgesamt 20 Mrd. m³. Zwei dieser FSRU sollen bereits Ende 2022 oder Anfang 2023 in Wilhelmshaven und Brunsbüttel in den Betrieb gehen. Die dazugehörige Infrastruktur wird parallel gebaut. Die beiden anderen Standortentscheidungen stehen noch aus. Sind alle vier FSRU in Betrieb, fehlt nach Angaben von Zukunft Gas noch eine Kapazität von etwas mehr als 10 Mrd. m³ – also etwa 10 Prozent.

Dazu kommen noch die festen LNG-Terminals in Stade (13 Mrd. m³), Wilhelmshaven (12 Mrd. m³) und Brunsbüttel (8 Mrd. m³). Diese werden zwar erst später in Betrieb genommen, haben dafür aber auch höhere Kapazitäten. „Seitens der Infrastruktur laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren und gleichzeitig wird bereits mit potenziellen Importpartnern verhandelt“, resümiert eine Sprecherin von Zukunft Gas.

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